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"Jeder Tritt zertrümmert unzählige Buddha-Reiche !

Jeder Blick verstummt ganzes Dharmakaya !"

Donnerstag, 23. Februar 2012

PARADOXE GEGENSÄTZE


Oder: „Wie man kleine Ziele verfolgt, 
dabei aber die größere Hauptaufgabe verpasst.“

Thích Thanh Từ

Namo Sakyamuni Buddha

Das Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist ein sehr bescheidenes, alltagsnahes Thema: Als Erdbewohner sind wir alle – mehr oder weniger – im Unklaren und verblendet, daher irren wir uns oft. Inwiefern? Wir wenden all unsere Kräfte für wenig bedeutsame, sogar völlig unbedeutende Dinge auf. Dagegen schenken wir den für uns äußerst entscheidenden, lebenswichtigen Aufgaben wiederum keinerlei Beachtung, wir vernachlässigen oder ignorieren sie sogar. Dies werde ich, zum Nutzen aller Anwesenden, im Folgenden nach und nach veranschaulichen.


Zunächst existieren im Alltag drei vordergründige Bedürfnisse – beispielsweise: das Essen, das Trinken und die Atmung. Um welches kümmern wir uns am meisten? Natürlich, normalerweise um das Essen. Von morgens bis abends ein und dasselbe: was wollen wir essen? Wenn wir es einmal genauer betrachten, stellen wir fest, dass wir auch nach Tagen ohne richtiges Essen noch nicht gestorben sind. Als nächstes das Trinken. Erst nach einem ganzen Tag, an dem wir nicht getrunken haben, sind wir richtig erschöpft und erst nach mehreren Tagen können wir sogar sterben. Wie lange können wir es dagegen aushalten ohne zu atmen? Ein paar Atemzüge etwa? Eigentlich verläuft das Leben von Sekunde zu Sekunde. Sobald wir einmal den letzten Atem ausgestoßen haben – für den Fall, dass wir nicht mehr in der Lage sind, selbst einzuatmen – ist der Tod schon sehr nah. Trotzdem dominiert bei den Leuten die Ignoranz und man fixiert sich so sehr nur auf das Essen und Trinken, so dass sie die Atmung völlig dem Unterbewusstsein überlassen. Eines ist klar: für die vordergründigen Dinge vernachlässigen wir etwas äußerst Wichtiges. Wir verbrauchen all unsere Kräfte für weniger bedeutsame Dinge. Ist dieser Irrtum somit nicht bedauernswert?

Nun zum nächsten Aspekt: Körper und Geist. Hier sind der physische Leib und das geistige Bewußtsein insgesamt gemeint. Welches der beiden ist wichtiger? Um welchen von beiden haben wir uns am meisten gekümmert? Eher mehr um den physischen Leib. Der wird richtig fein gepflegt und herausgeputzt, aber um den Geist kümmern wir uns dagegen nicht so sehr. Tendenziell putzt der Mensch mehr seine äußerliche, körperliche Fassade blank. Der geistige Teil aber wird oft 'versehentlich' vernachlässigt, obwohl dieses 'geistige Oberhaupt' immerhin den ganzen Körper steuert. Wenn wir z.B. aus dem Haus auf die Straße gehen wollen, überlegen wir zuerst und dann gehen wir. Der Geist arbeitet immer im Voraus und ist dafür zuständig, ob wir gehen oder nicht. Das gilt ebenso für sämtliches absichtliches Vorgehen und vorausschauende Planungen aller Art. Es wird immer zuerst der Geist in Gang gesetzt, erst dann folgt die Ausführung. Trotz dieser Tatsache spielt für uns der Befehlsinhaber, der alles plant und in Gang setzt, neben dem körperlichen Aspekt nur eine untergeordnete Rolle.

Stellen wir uns einmal selbst folgende Frage: Selbst wenn dieser Körper von uns voll versorgt werden würde, könnte er aber ewig für uns existieren? Ganz unabhängig davon, wie gut wir ihn versorgen, es ist nicht zu verhindern, dass er bald und unaufhaltsam zerfällt. Leidenschaftlich sorgen wir für ihn: mit Haus, Grundstück, Geld, Schmuck, voll gestopften Kleiderschränken, usw. Aber alsbald kommt der Tag, an dem sich unsere Augenlider für immer schließen. Existieren dann all diese Dinge für uns immer noch? Oder verliert das alles auf einmal seinen Sinn? Wo liegt der Sinn, mit so viel Kummer und Leid heute für die Dinge zu sorgen, welche morgen unaufhaltsam verloren gehen? Trotz allem, wir lassen uns aber davon nicht beeindrucken und jagen weiterhin Tag und Nacht solchen Dingen hinterher und vernachlässigen dabei den eigentlichen 'Befehlsinhaber', den 'Motor', der alles nach vorn treibt und steuert. Es ist uns völlig egal, wir lassen uns treiben, egal wo wir dabei landen. Sind wir eigentlich noch ganz bei Trost? Das Ganze ist ein leicht zu überschauendes Thema und gerade deshalb sollten wir unser Augenmerk darauf richten, denn wir benötigen tiefgründige Einsicht, damit der Irrtum sich verringert oder vermieden werden kann.

Angenommen – der geistige, psychische Teil, das Seelische, das Geist-Bewußtsein allgemein, usw. – all dies ist eine Kristallisation des Selbst, des Wesens unserer Person und was uns ausmacht. Angenommen es besitzt eine unbestritten führende Funktion, plant unser ganzes Leben und übernimmt die Führung. Dann wäre es recht, wenn wir alles Erforderliche dafür täten, dass sich Güte verkörpert, damit darüber hinaus eine ehrwürdige, transzendentale, erhabene 'Position' des Geistes möglich wird. Dann wäre es auch recht, dass dieser körperliche Leib eine genügsame und etwas bescheidenere 'Verpflegung' genießen würde als der geistige. Leider handeln wir jedoch oft umgekehrt. Dies sind Irrtümer und Fehler der meisten Menschen.

Nun reden wir über einen multidimensionalen Begriff: 'Tu' [vietn.] das bedeutet hier zunächst etwa soviel wie 'spirituelle Praxis', 'praktizierend', ferner 'Wartung', 'Instandsetzung', 'Restaurierung', 'sich selbst ausbessern' usw. [Anmerkung der Übersetzer: Der Begriff 'Tu' beschreibt hier vordergründlich eine lebenslängliche Zen-Praxis in allen Bereichen]. Und was könnte alles unter 'spiritueller Praxis' zu verstehen sein? Für die meisten buddhistischen Laien in neuerer Zeit bedeutet 'Tu' zunächst 'vegetarisch zu sein', außerdem 'Buddha-Niederwerfungs-Praxis'. 'Vegetarisch sein' und 'Niederwerfung' gehören immerhin zum äußerlichen, leiblichen, körperlichen Aspekt, wobei aber der 'Befehlsinhaber, das Oberhaupt' dabei unberührt bleibt. Dies ist ein Praxisweg, bei dem man dazu neigt, alles in äußerlichen 'Verdiensten' umzuwerten, bei dem man ein 'Spar-Guthaben' 'ansammeln' kann. 'Tu' - die 'spirituelle Praxis' - meint daher auch viele andere Wege.


Auch der Praxisweg, wo der Geist im Mittenpunkt steht und geschult, gefiltert, befreit wird von getrübten Illusionen, damit er immer klarer und reiner wird. Von den genannten zwei Wegen ist der zweite erheblich wichtiger. Der Geist ist der ‚Generalbefehlshaber‘. Wenn er so gut geschult wurde, um selbstständig weise Entscheidung zu treffen, spiegelt sich  dieser innerliche Friede folglich auch im Körper, in  der Sprache und allem Anderen wider und strahlt diesen nach außen aus. Dies fördert, dass das Leben edler, sinnvoller und erhabener gestaltet wird. Wenn die Praxis in Richtung bloßen Glauben geht bzw. ein gegenseitiges Bedingen zwischen 'materiellem Lohn und Verdiensten' und 'Geber und Nehmer' hervorbringt, dann schwebt hier scheinbar die Vorstellung mit, dass sich 'materielle Verdienste'  auch entsprechend 'vermehren' lassen bzw. eine verlockende 'Gutschrift' gutgeschrieben werden kann. Wenn der Geist noch voller illusorischem 'Abfall' ist und durch Leiden belastet wird, können wir kaum Schritte unternehmen, um an die Wurzel der Unwissenheit vorzudringen. Und die große Aufgabe, bei der die Rede ist von 'Werdung' und 'Befreiung', 'Entfesselung',  sich aus den Fesseln  des Kreislaufs von Leben und Sterben zu befreien, usw. ist noch weit weg entfernt, völlig ungewiss und unlösbar. Dies ist eine sehr wichtige Angelegenheit. Um eine klare Vorstellung zu gewinnen, sollen die Praktizierenden sich damit tiefgründlich auseinandersetzen.

Wenn für uns das geistige Thema von Bedeutung und ein wesentliches Anliegen ist, wenn wir uns schon über unseren Geist- und Selbst-Veredelungsprozess Gedanken machen,  damit er klarer, edler wird, dann ist ein 'introvertierter Rückblick' höchst wichtig, um zuerst das eigene Selbst gründlich betrachten zu können. Es gibt niemanden hier, der sich nicht darüber bewußt ist, dass Gier, Zorn und Unwissenheit, etc. etwas Negatives sind, dass man diese gern verändern würde, oder? Sicher, bewußt sind sich alle, nur aufrichtig davon Abschied nehmen, will keiner. Daher hat der Buddha uns gezeigt, wie verblendet die Lebewesen sind, aber eben auch, wie würdevoll sie sind, des Mitgefühls würdig. Ein bildhaftes Beispiel mitten aus dem Alltag: Wir kennen viele Leute, die von der äußerlichen Erscheinung her so lieblich und gelassen aussehen, folglich stellen wir uns vor, dass sie noch nicht mit einer kritischen Situation in Berührung gekommen sind. Aber schon bald, wenn sie in einen unerwünschten, ärgerlichen Vorfall verwickelt sind, bricht hitziger Zorn bei ihnen aus. Nicht nur nicht einsehend, dass ihr Zorn als Umgangsform an sich immer falsch ist, sondern vielmehr, um ihre Reaktion zu rechtfertigen, begründen sie auch noch, weshalb sie zornig geworden sind. Wenn wir Zorn dulden, ihn verteidigen, wann und wie könnten wir dann noch von ihm Abschied nehmen bzw. ihn aufgeben oder loslassen? 

Es gibt wenige Menschen, die bei ihrem eigenen unkontrollierten Zorn einsichtig sind und ihn konstruktiv als Fehler zugeben. Oder sogar mutig aussprechen: „Das ist mein Fehler! Das Ganze hätte ich mir sparen können. Ich schäme mich dafür, es tut mir sehr leid.” Nicht bereit zu sein, den eignen Fehler als solchen zu akzeptieren und darüber stillzuschweigen, ist auch eine Art verborgene Absicht, sein Fehlverhalten auf das Gegenüber zu schieben und damit anzudeuten, dass nur er selbst eigentlich Recht hat. Die Folge ist, dass der eigene Zorn nie repariert oder aufgegeben wird.

Der Mensch verhält sich tagein, tagaus so widersprüchlich. Vor Buddha wirft man sich nieder, schluchzend und schmatzend betend, so leidenschaftlich, bis Dampf aufsteigt: "Segne mich! Segne Hab und Gut“. Gib mir Glück!" Man wünscht sich viel Klarheit, Reinheit und alles, was diesseits und jenseits des Weltlichen noch zu wünschen ist. Aber   ein wenig von seinen destruktiven Charakterzügen ablegen will man doch noch nicht richtig. Dies ist eine Realität und dies betrifft sehr viele Menschen, die scheinbar noch keine klare Linie gefunden haben. Der Zorn ist aber immer noch oberflächlich und lässt sich leicht erkennen. Gier, Begierde und verblendete Unwissenheit dagegen sind latent und viel tiefer verborgen und daher noch schwieriger zu beseitigen. Der von Begierde geprägte Mensch ist bodenlos. Niemals macht seine Geld-Gier halt, er will immer mehr und noch mehr. Gier und Begierde werden somit niemals gestillt und man fühlt sich niemals gesättigt.

Gier und Zorn halten wir für zwei völlig verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In Wirklichkeit ist die Gier der Vater des zornigen Sohnes. Zuerst befassen wir uns mit der äußeren Fassade der Gier und ihren Objekten, die wir noch nicht besitzen. Ein Beispiel: Auf dem Markt verlangt ein Verkäufer für seine begehrte Ware 500 Taler. Wir haben ihn mühsam bis auf 300 herunter gefeilscht. Da taucht plötzlich jemand auf und bietet 301 Taler für die Ware. Vor unserer Nase verkauft der Verkäufer seine Ware sofort an den höheren Bieter. Daraufhin werden wir wütend und zornig. Eines ist klar: Der Zorn entfaltet sich aus der Gier und Begierde heraus, anders ausgedrückt: die Gier ist der Keim, aus dem der Zorn wächst. Was ist mit den begehrten Objekten, die in unserer greifbaren Umgebung liegen? Die wir schon besitzen, sehr schätzen und lieben, dann jedoch auf einmal verloren gehen? Wie groß können dann Trauer und Zorn erst sein?

Noch ein Beispiel: Wir haben gerade eine sehr teure seltene Porzellanvase gekauft und unser Enkelchen hat sie einfach so auf den Boden fallen lassen. Im Nu ist die Vase in tausend Stücke zersplittert. Wir sind fassungslos, wütend, zornig und schreien, schimpfen endlos herum. Dieser hitzige Zorn resultiert aus der Gier nach dem begehrten Hab und Gut. Hab und Gut, das wir gern hätten, für uns behalten wollen. Wenn dies einfach verloren geht, ist die Enttäuschung riesig, folglich brechen Wut und Zorn aus und wir leiden dann. Wir können demnach sagen, dass sämtliche Wut und jeglicher Zorn durch die Gier gestiftet und verursacht werden. Wir alle wollen gelobt und geehrt werden, ehrenvollen Ruhm erlangen. Wenn wir aber nur das Gegenteil, wie Tadel und Kritik ernten, können wir darauf richtig zornig reagieren. Wo die Gier nach Ruhm, Vorteil, Macht, Schönheit und vieles mehr nicht entsprechend erfüllt wird, herrscht Unzufriedenheit, die zu Neid und Zorn führt und bald in Hass endet. Aber die Gier wird von der verdunkelnden Unwissenheit gesteuert und erwächst aus ihr heraus.

Ob wir wollen oder nicht: mit jedem Tag, der vergeht, verringert sich auch das Leben dieses leiblichen Körpers unaufhaltsam. Das Leben ist unbeständig und vergänglich: Heute sind wir noch am Leben, aber so sicher ist das Morgen schon nicht mehr. Jemand, der die Unbeständigkeit aller Phänomene bereits tiefgründig erkannt hat, besitzt schon zu einem großen Teil die rechte Einsicht, dass alle Phänomene immerwährend in Bewegung sind und sich in ihrer Existenz gegenseitig bedingen. Es ist auch eine reale Wahrheit, die wir ganz persönlich bitterlich erfahren: Jedes Ausatmen könnte das letzte sein, wenn anschließend kein Einatmen mehr folgt – dahinter lauert bereits der Tod. Eine Garantie, dass unser Leben hundert Jahre andauern wird, gibt es nicht. Und dennoch, wenn jemand darauf hinweist, dass unser Leben kurz und flüchtig ist, wollen wir nie hinhören, wir reagieren traurig bis zornig darauf. Dagegen freuen wir uns über Wünsche, dass wir die 'Hundertjahr-Marke' erreichen mögen, sehr. Wie kann man diese Haltung noch anders nennen, als eine Selbsttäuschung?

Wir 'ernähren' uns im Leben so oft mit imaginären, illusorischen Träumen und Wünschen, die ganz und gar irreal und nicht realistisch sind. Die Ursache dafür ist die Unwissenheit. Wenn jemand der Meinung ist, dass unser Leben flüchtig und kurz ist, wissen wir, dass er Recht hat. Wenn das Leben an sich von jedem einzelnen Atemzug abhängt, wie kann man so ignorant sein und es nicht als kurz und flüchtig, wie es ja tatsächlich ist, bezeichnen? Wenn wir die Dinge sehen, wie sie sind, werden wir einfach darüber lächeln. Es wird keine Trauer, kein weiterer Zorn nötig sein. Weil wir aber noch keine Weisheit erlangt haben, wollen wir weiterhin in imaginären Illusionen leben. Auf Tatsachen reagieren wir dann aggressiv und verursachen somit alle Arten von Gier, Hass, Neid und Leid, usw., welche unseren Wahren Geist verdunkeln.

Diese verblendete Sichtweise, dass das Hundert-Jahre-Leben von Dauer ist, nehmen wir so unbedacht und leichtfertig ein, dass wir all unsere Kraft, über die wir verfügen, einsetzen, um  Bauwerke des Lebens – eines nach dem anderen – zu errichten. Und so geht es immer weiter, bis zum letzten Atemzug scheint noch kein Ende in Sicht. Jahrzehnt um Jahrzehnt, das uns zur Verfügung steht, begraben wir komplett mit der Sorge um die äußerlichen, materiellen Dinge. Wir wollen nicht mehr wissen, ob unser Geist noch rein ist oder längst getrübt, verdunkelt worden ist. Statt für die Vervollkommnung des Geistes, für einen reinen Charakter zu sorgen, jagen wir nur provisorischen, temporären Erscheinungen und Erlebnissen hinterher.

Für unser momentanes Leben haben wir geschuftet, uns alles angeschafft und aufgebaut. Wir fixieren uns so sehr darauf, dass ein Loslassen nicht mehr möglich ist. Falls jetzt alles auf einmal auf der Strecke bleiben würde, weil wir vielleicht schon jetzt das Leben für immer verlassen müssten, dann würde Trauer, Enttäuschung und unerfüllte Begierde so gigantisch groß und sehr schmerzhaft sein. Wir sehnen uns so sehr nach materiellen Dingen und fixieren uns weiterhin so sehr darauf. Und gerade das ist der Grund, dass wir willentlich und zugleich gezwungenermaßen nochmals und immer wieder zurückkehren und uns der Wiedergeburt unterwerfen. Daher belehrt uns der Buddha, dass die Unwissenheit die Ursache der Wiedergeburt ist. Durch die Unwissenheit verzerren wir unsere Sichtweisen und verblenden sie immer weiter. Wir haben verblendete Sichtweisen über das Leben, über Ruhm und Anerkennung, über Schönheit, u.a. Weil wir uns eingebildet haben, dass wir hübsch, klug,  usw. sind, können wir uns schon sehr beleidigt und wütend fühlen, falls jemand eine andere Meinung hat und sagt, dass wir doch greisenhaft und dumm seien. Wir bilden uns selbst so oft und so gerne ein, dass wir hübsch, edel und klug sind. Sind wir wirklich hübsch? Wirklich edel? Wirklich klug usw.? Wirklich das, was wir uns über uns selbst gerne  vorstellen? Es gibt keine Garantie dafür, dass es wirklich wahr ist, absolut keine Garantie! Dennoch, freuen wir uns über ein Lob, aber Kritik können wir nicht ertragen. Das ist ein Grund, weshalb die Menschheit das permanent wiederkehrende Leid, immer wieder ertragen muss, weshalb sie sich nicht selbst entfesseln und befreien kann.  

Wenn wir jetzt doch anerkennen, dass das Wesen des 'Lebendig-Seins' dieses leiblichen Körpers an sich doch unbeständig und vergänglich ist; wenn wir jetzt erkennen, dass das 'Ich' als Ganzes aus unzähligen, einzelnen Nicht-Ich-Elementen besteht – so wie aus mehreren Strohhalmen ein ganzer Strohballen gebildet wird –, dann würde die Wichtigkeit eines kleinen 'Ich', welches nur ein kleiner Teil des Ganzen ist, nicht mehr so übermäßig groß sein, wie wir es uns gern vorgegaukelt hatten. Dann würden auch der subtile falsche Stolz und die latente, üble Überheblichkeit keinen Halt mehr finden. Erst dann sind wir mit Konsequenz und Entschlossenheit auf der Suche nach einem 'wahren Wert', der über die erstgenannten hinausgeht. Erst dann kümmern wir uns darum, was für uns die entscheidendere Sache, für die wir eigentlich viel Mühe investieren sollten, ist und entsagen dem, dem man eigentlich entsagen sollte.

Wir fassen drei Aspekte kurz zusammen:
  1. Das Leben hängt an jedem Atemzug.
  2. Dieser Körper ist von temporärem, provisorischem Charakter und darf in seiner Bedeutung nicht etwa erstrangig werden.
  3. Wir sind noch mit sehr vielen eigenen Fehlern behaftet, die noch auf eine Reparatur warten.

Dieses im Sinn zu behalten, hilft uns, uns besser auf die 'Tu' ['die Praxis'] zu konzentrieren. Es hilft uns, unseren Geist aufrichtig zu reinigen. Nachdem unser Körper und unser Geist im Einklang miteinander stehen und reiner und klarer geworden sind, werden wir widerstandsfähig und unerschütterlich gegenüber allen Verwirrungen und Unruhen, samt äußerlichen materiellen Verführungen dieses weltlichen Daseins. Sie können uns nie mehr wieder hierhin und dorthin ziehen oder mitreißen. Dies ist eine erfahrbare, wahre Realität.   

Schauen wir genauer hin: Die äußerliche Hülle, welche die leiblichen Inhalte dieses Körpers zusammenhält, ähnelt eher einem stinkenden Hautsack oder einem halb zugedeckten Nachttopf. Falls jetzt jemand uns mit zugehaltener Nase entgegenkommt, können wir ja sagen: „Na bitte, dann mach doch den Weg für den Nachttopf frei!”. Somit ersparen wir uns eine Menge vermeidbares Leid. Wenn wir uns von einer solchen Beleidigung nicht beeindrucken lassen, müssen wir ja auch nicht mehr soviel leiden, wie es sonst der Fall wäre. Daraus gewinnen wir die Einsicht, dass wir seit langem mit falschem Hochmut gelebt haben, welcher durch die Selbstverblendung verursacht worden war. Wenn wir jetzt ernsthaft den Mut  entwickeln, uns mit der Wahrheit zu konfrontieren, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind, wird unsere Sicht erst frei von Verblendungen sein und wir werden dann das Leben erst richtig gelassen nehmen. Wir haben festgestellt, dass Verblendung Gier verursacht und Gier Zorn entfacht. Diese Drei sind Gifte, welche wir nicht mehr weiterhin einnehmen dürfen, sondern wir sollten uns mit Entschlossenheit davon trennen.

Wir haben aber eine chronische Krankheit: Wir wissen sehr wohl, dass wir eine Menge gravierender Fehler haben, bringen aber nicht genügend Mut und Selbstvertrauen auf, um uns von diesen Krankheiten allesamt mit einem Mal an Ort und Stelle zu trennen. Wir versprechen, uns irgendwann einmal dafür Zeit zu nehmen, uns irgendwann einmal damit zu beschäftigen. Andererseits wollen wir aber auch so schnell wie möglich die Große Erkenntnis, die Buddhaschaft und so weiter, sofort erlangen. Bemerken wir dabei nicht etwas Bedenkliches? Dass wir nicht nachgefragt haben, wie dies alles überhaupt möglich sein soll? Warum? Weil bei unserer Praxis der Einsatz von Weisheit obligatorisch benötigt wird, um bei allen Phänomenen immer die Wahrheit ihres Wesens zu sehen, so wie sie sind. Alles, was als illusorisch erkannt wird, wird erneut transformiert, damit die Wurzel der Verblendung von Beginn an vollständig durchtrennt wird und somit dem Leid ein Ende gesetzt werden kann. Wenn wir aber nicht mutig sind und uns zutrauen, auf die eigenen Fehler frontal zu schauen, ihnen den Abschied zu erklären, wie kann da von der Gelassenheit des Geistes die Rede sein? Und abgesehen davon, wann erfolgt die Befreiung? Es versteht sich von selbst, dass diese auch noch fern bleiben wird.

Sorge und Leid kommen nicht etwa einfach so aus der Luft oder sonst irgendwo her, die Ursache besteht im Wesentlichen darin, dass in unserem Geist noch keine Klarheit herrscht und dass wir noch nicht über Weisheit verfügen. Manche haben flüchtig mitbekommen, dass der Buddha gelehrt haben muss, dass das Leben 'leidvoll' sei, dass der Körper vergänglich ist und dergleichen mehr. Sofort sind sie der Meinung, dass Buddhas Sichtweisen pessimistisch seien. Diejenigen ahnen nicht und sind sich nicht bewußt darüber, dass man gerade dadurch, durch eine solche tiefgründige Einsicht, einen ungeahnten Horizont eröffnet. Danach öffnet man unzählige Tore, man löst unzählige Knoten, so dass das Leid einen nicht mehr andauernd verfolgen kann. Dieser Einsicht stimmt zwar der Mensch zu, doch als wahr will sie keiner anerkennen. Daher weitet sich das Leid zur Lebenskatastrophe aus, dieses Leben hindurch, bis zum nächsten Leben. Keines gleicht dem anderen; scheinbar wollen Sorge und Leid nie aufhören, uns heimzusuchen.

Versuchen wir einmal, tiefgründig über folgendes nachzusinnen: Vom reichsten bis zum mittellosesten Mensch auf dieser Erde - gibt es irgendwen, der ganz und gar nicht leidet? Oder jemanden, der ausnahmslos nur Glück und Freude genießt? Genauer betrachtet, kommen wir zu dem Schluss, dass in der Realität jeder auf seine Art mehr oder weniger leidet. Bei dem einen ist es wegen der Armut und kargen Lebensbedingungen, bei dem anderen wegen der Einsamkeit, bei einem weiteren ist es wegen brüchigen familiären Beziehungen, allen Arten von Unzufriedenheit und so weiter und so fort. Jeder trägt sein eigenes Leid, bei keinem ist das Glück vollkommen. Aber sobald der Buddha sagt, dass das Leben 'leidvoll' sei, erwidert man skeptisch, dass der Buddhismus so pessimistisch sei. Eindeutig, der Mensch neigt oft dazu, jeden Umweg zu finden, um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen.

Erst wenn wir fähig sind, uns direkt mit der Wahrheit zu konfrontieren, gewinnen wir daraus das Selbstvertrauen und die Tapferkeit, um vorwärts zu kommen. Stets bedenkend, dass das Leben unbeständig und vergänglich ist, wird uns sehr behilflich dabei sein, uns an Folgendes zu erinnern: die Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, sollten wir stets sinnvoll nutzen. Die Zeit ist wirklich wertvoll für die Praxis, um das üble, egoistische Selbst abzulegen. Wenn wir uns stets daran erinnern, dass dieser leibliche Körper so flüchtig ist, dass er an jedem Atemzug hängt, dann wird die Begierde schnell verfliegen und auch nicht mehr so brennend sein. Wenn wir uns daran erinnern, dass, falls wir diesen leiblichen Körper nicht entsprechend pflegen, er in sehr kurzer Zeit  so sehr stinken wird, dass wir uns selbst nicht mehr riechen können, wird sofort die Überheblichkeit eines üblen 'Ich-Stolzes' in weiter Ferne gehalten. Je erfolgreicher wir mit der Verabschiedung bzw. Loslassen von üblem Ballast sind, desto leichter können wir zu uns selbst zurückkehren – dem realen, wahren Leben. Dieses ist die Kontemplation derjenigen Personen, welche schon über die ersten Knospen der klaren Weisheit verfügen.

Ein wesentlicher Bestandteil von 'Tu Thiền' / der 'Zen-Praxis' ist, dass wir immer auf der Hut sind und stets dem Geist Vorrang einräumen, ihm die beste Möglichkeit bieten, Weisheit zu entwickeln. Ganz egal, wie viele Schönheits- und Wohlfühlmaßnahmen wir für unseren Körper betreiben, wir können nicht aufhalten, dass auch er zur Neige gehen und unaufhaltsam zerfallen wird. Aber hier scheint die Vergesslichkeit immer noch präsent zu sein. Wir wenden alle Kraft, die wir haben auf, um alles dafür zu tun,  von diesem leiblichen Körper immer noch mehr zu profitieren – alles, allen Gewinn aus ihm zu ziehen, der vorübergehend noch möglich ist. Wir wollen gar nicht mehr wissen, wie mühsam wir uns gerade noch angestrengt haben, um etwas zu bekommen, für uns zu gewinnen, das wir schon bald wieder verlieren oder von dem wir uns bald wieder trennen. Wie es dabei um das Schmieden der Weisheit aussieht, vernachlässigen wir ganz. Die meisten der Laien-Buddhisten kommen mit ihrer eigenen Sichtweise und Erwartung zur Buddha-Lehre, zum buddhistischen Tempel. Und zwar nur dafür, um für irgendwelche großen Wünsche für sich und ihre Verwandten zu beten. Scheinbar wollen sie nichts anderes, als jetzt oder vielleicht sogar im nächsten Leben, ein noch besseres, wohlhabenderes Leben und besseres Äußeres. Körperlich, geistig und materiell, alles soll irgendwie mehrfach schöner als das Jetzige sein, man will etwas erleben, besitzen oder am besten: Wünsche aller Art sollen restlos in Erfüllung gehen. Es scheint, dass die Motivation ihrer Praxis einerseits nur gerade so hoch ist, dass sie sich bloß nicht richtig mit der Wahrheit konfrontieren müssen und ihr schon gar nicht ihr ins Gesicht schauen müssen. Andererseits wollen sie sich nicht wirklich von ihrer Unwissenheit und Verblendung trennen. Somit ist für diejenigen, bei denen einst die Rede war von Erleuchtung und Befreiung, etc., diese in weite Ferne gerückt, ist etwas völlig Unbekanntes, wenn nicht gar ein längst unerwünschtes Thema geworden und in 'Vergessenheit' geraten.

Daher versuchen wir mit einem sinnbildlichen Beispiel einen wesentlichen Teil von 'Tu' / der 'internen Zen-Praxis' zu verdeutlichen: Unser Geist gleicht trübem Wasser in einem Kristallkrug, das wir filtern sollten, damit es klar wird. Nach einiger Zeit der geduldigen und mühsamen Beruhigung des Wassers im Krug sinken alle Schmutzpartikel auf den Boden und das Wasser wird kristallklar. Das Wasser ist nun zwar kristallklar, aber die Schmutzpartikel sind noch auf dem Boden abgelagert; falls das Wasser jetzt wieder aufgewühlt werden würde, würde es wieder so trüb werden wie vorher. Daher, wenn wir also nicht wollen, dass das klare Wasser bald wieder getrübt wird, müssen wir das klare Wasser in einen anderen Krug hineinfiltern und die Schmutzpartikel anschließend weggießen. Genauso ist es hier: die Gier, der Hass und die Verblendung sind die Partikel, die unseren Geist trüben und verdunkeln. Wir müssen Geduld haben und immer zunächst unserem Geist die Möglichkeit geben, zur Ruhe und Stille zurückzukehren, damit wir deutlich erkennen können, wie die 'Schmutzpartikel' sich tagein, tagaus deutlich vom 'klaren Wasser' absetzen bzw. zu Boden sinken. Danach hilft es nur, sie für immer 'wegzuschütten', damit unser Geist von Klarheit überflutet wird und somit auch das Leid keine Möglichkeit mehr hat, seine Schatten zu verbreiten. Solange der Geist immer noch getrübt und verfinstert bleibt, solange ist auch der Tag, an dem wir hoffen, uns vom Leid trennen zu können, ungewiss. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.

Wir besitzen zwei Arten von geistigen Dimensionen: Der eine Geist ändert sich ständig, er ist der Unbeständigkeit und Vergänglichkeit unterworfen. Der andere ist der Wahre Geist, der kontinuierlich in reiner Klarheit erstrahlt, der nicht der Unbeständigkeit und Vergänglichkeit unterworfen ist. Wenn wir jetzt etwas Boshaftes denken, wird dieser instabile Geist am laufenden wieder in Bewegung gesetzt und unaufhörlich verändert oder wird er für immer seinen Zustand behalten? Ein Beispiel: Heute hatte uns jemand beleidigt, darauf haben wir zornig reagiert, das führte zu einem getrübten geistigen Zustand. Nach einiger Zeit tut uns derjenige sehr viel Gutes, darüber freuen wir uns und mögen ihn wieder. Hier kommt der instabile, bedingte Geist zum Tragen, der dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Er ist nicht statisch und unveränderlich, sondern ändert sich je nach Umständen und Situationen. Wenn die Umstände/Bedingungen für ihn 'günstig' erscheinen, ist er 'gut', anderenfalls kann er auch 'schlecht' sein. Wenn er also bedingt ist, kann er auch nicht 'das Wahre Ich' sein. Daher gibt es niemanden, der den ganzen Tag lang nur zornig und ärgerlich ist. Liebe, Hass, Trauer oder Zorn, usw. sind die geistigen Zustände, welche durch die situationsbedingt sind und sich ständig in den jeweils anderen Zustand verwandeln.  

Der Buddha hat uns immer gelehrt, dass alles, was sich durch bedingtes Entstehen manifestiert hat, nichts 'Wirkliches' ist, sondern unbeständig und nicht wahrhaftig ist. Wir streben jedoch nur dem 'Unechten' hinterher und ignorieren dabei gänzlich die Existenz einer 'wahrhaftigen Wirklichkeit'. Wir nehmen uns alle Zeit, den ganzen Tag lang nur unseren Körper zu pflegen. Wir eignen uns alles an, vordergründig alles für geistiges Erleben, wie: Überlegenheit / Niederlage, Recht / Unrecht, Gut / Böse, Gewinn / Verlust, usw. und identifizieren uns mit all diesem kognitiven, mentalen Erleben, so, als ob dieser 'Ich-subjektive-Geist' uns selbst ausmacht. So denken wir etwa: „Ich bin gut.“, „Ich denke etwas Rechtes.“ bzw. „Ich bin schlecht.“, „Ich denke etwas Schlechtes“, „Ich bin traurig.“, „Ich bin fröhlich.“ und so weiter und so fort. Wir klammern uns an dem vergänglichen Geist fest und bilden daraus ein 'Ich': „Ich bin das und jenes.“, ein 'autorisiertes Ich' bzw. eine 'subjektive, autarke, autorisierte Person' entsteht. Alles wollen, um jeden Preis und die Hauptrolle spielt 'mein eigenes Ich'. Daher sind wir dem 'Ich' verfallen und zugleich haben wir damit unser eigenes, wahres Ich verloren. Überall ist von einem 'Verlorenen Ich' zu hören, ist das nicht bitterlich und bedauernswert?

Buddha hatte gelehrt, dass die Lebewesen durch ihre 3 eigenen führenden Karmas im Wiedergeburten-Kreislauf verfangen sind. Die 3 karmischen Aspekte sind der Körper, der Mund und die Gedanken [bzw. den sechsten Bewußtseinsbereich]. Wenn die Gedanken etwas Schlechtes denken, bringt der Mund die bösen Worte zum Ausdruck, überredet den Körper, etwas Boshaftes zu tun. Dafür führt ihr Karma sie in die entsprechenden schlechten Daseinsbereiche [Gefängnis des Geistes, Geister und Tiere, …]. Wenn die Gedanken etwas Gutes flüstern, redet der Mund auch friedliche Worte, der Körper unternimmt auch etwas Gutes. Ihr Karma führt sie in die guten Daseinsbereiche [Menschen, Himmelswesen, Atula][Empfohlene Literatur: 'Karma – Ursache und Wirkung': Dharma-Vortrag des Ehrwürdigen Zen-Meisters Thích Tuệ Giác am 13.09.2008 in München. Kostenlos zu erhalten bei: Bodhi-Kontinuum-Zen-Gruppe, Info unter:    bodhikontinuum@gmx.de]

Eindeutig: Hauptverursacher sind die Gedanken [der Geist], der das Karma schafft [genauer: der sechste Bewußtseinsbereich]. Das sind alle unsere mentalen, psychischen Interaktionen, wie Trauer, Liebe, Zorn, Hass und vieles mehr. Wenn wir auf dem Weg der Praxis, auf der Suche nach Befreiung sind, um dem Geburten- und Sterben-Kreislauf zu entkommen, dann ist ein Festhalten an diesem Geist gänzlich irreführend und wahre Befreiung werden wir niemals erreichen. Wir sammeln dadurch höchstens wertvolle 'gute bzw. schlechte Verdienste' oder wir werden von karmischen Wirkungskräften auf gute bzw. ungünstigen Wege geführt werden.  

Am Anfang des Praxiswegs üben wir eifrig, alles Schlechte und Böse loszulassen. Beim nächsten Schritt üben wir auch, Rechtes, Gütiges restlos 'loszulassen'. Das will aber niemand tun, wir halten das für zu schade. Ja wieso denn? Jetzt sollen wir uns sogar vom 'Guten' verabschieden? Gerade, weil wir auch das 'Gute' nicht loslassen können, werden wir auf unserem Wege auch nur innerhalb des Wiedergeburten-Kreislaufs herumirren. Solange wir unser Wahres Wesen noch nicht entdeckt haben, können wir nicht die 'ewige Freude' erfahren. Auf die  Frage nach dem diesem 'Wahren Wesen', 'Wahren  Dharma' entgegnete der Sechste Patriarch dem Ehrwürdigen Minh wie folgt: „Während Du nichts Gutes, nichts Schlechtes denkst, was ist dein 'ursprüngliches Wahres Gesicht', 'Ur-Antlitz' in eben diesem Augenblick, lieber Ehrwürdiger Minh?“ [„Nicht denkend 'gut', nicht denkend 'schlecht' – Was ist dein ursprüngliches Antlitz in eben diesem Augenblick?“ – 'Das Sutra des Sechsten Patriarchen' bzw. 'Sechsten Patriarchen – Podium des Dharma-Schatzes-Sutra']. Eines Tages, wenn der Geist stets bewußt ist, stets erleuchtet, gar keiner mehr von den 'schlechten und guten Gedanken' aufgewirbelt wird – wo gehen wir dann hin? „In dem Moment, in dem kein Karma mehr erzeugt wird, sind wir von Sterben und Wiedergeburt befreit – wohin werden wir noch gehen?“

Wir ignorieren das Wahre Wesen, das wir alle bereits besitzen, dieses Wahre Wesen, welches kein Karma erschafft und auch nicht mehr vom Karma verführt wird. Wir verwechseln es und identifizieren uns jedoch mit dem verwirrten Geist, welcher der Wiedergeburt und dem Sterbeprozess unterworfen ist, mit dem ständig Karma erschaffen wird und lassen unser Wahres Gesicht dadurch verdunkeln. Das 'ursprüngliche Wahre Gesicht' bedeutet hier unser 'ursprüngliches, ureigenes Wahres Gesicht' bzw. 'Antlitz', das seit Urzeiten und auch im jetzigen, gegenwärtigen Augenblick vorhanden ist. Leider wurde dieses Wahre Gesicht durch die illusorischen Denk-Impulse – gütige wie böswillige – verdeckt. Eines Tages, wenn sie alle keine Spur mehr hinterlassen, wird das 'Wahre Gesicht' an Ort und Stelle erscheinen.

Wenn der Geist sich all der umgebenden Sinnesobjekte bewußt ist, jedoch ohne sie zu unterscheiden und zu analysieren; anders  ausgedrückt: ganz am Anfang, wenn die Sinnesorgane gerade mit ihren Objekten in Berührung kommen, während der Unterscheidungsvorgang [über gut, böse, Gewinn und Verlust, …]  noch nicht in Bewegung gesetzt ist, existiert noch eine reine, klare Bewußtheit, immer präsent und stets in erhabener Ruhe. Aber sobald die ersten Unterscheidungsaktivitäten [darunter der sechste Bewußtseinsbereich] dominant in Gang gesetzt worden sind, wird diese Bewußtheit sofort temporär in den Hintergrund gedrängt,  verschwindet aber nicht etwa. Wenn der Unterscheidungsgeist den illusorischen Denkimpulsen hinterher jagt, 'flüchtet' sich der 'Ur-Allzeit-Wahre-Geist' währenddessen in den Hintergrund. Aber sobald die illusorischen Denkimpulse aufgehört haben zu wirbeln, wird sofort der 'Ur-Allzeit-Wahre-Geist' wieder zum Vorschein kommen. Daher hören wir oft von Zen-Meistern etwas, wie: „Nur weil Sie sich über 'Ihre Existenz' nicht bewußt sind, bedeutet das nicht, dass sie deswegen nicht existieren.“

Wir hören, sehen, denken, … 'ganz gewöhnlich' wie alle Anderen, uns fehlt nichts während des Sehens, während des Hörens und Denkens, …, aber trotzdem 'klagen' wir: „Wo versteckt sich meine Buddha-Natur?“, bzw. „Wieso können wir 'sie' nicht sehen?“. In der Tat 'sie' ist 'immer direkt vor unserer Nase', weil sie uns stets 'innelebt', wozu sollten wir noch mühsam irgendwo außerhalb danach suchen?

Während der ZaZen-Sitzung, wenn wir nicht schläfrig, nicht träumerisch sind, sondern uns innerlich aller gedanklichen Impulse bewußt sind, wie sie  entstehen und vergehen, andauernd hochkommen und durcheinander gewirbelt werden usw.,  bedeutet das, dass wir währenddessen trotz allem immer noch wach, munter sind, aber kognitiv noch dabei erfahren, dass wir uns in einem völlig klaren Bewußtseinszustand befinden. Diese reine Bewußtheit ist weder bewegliche, noch statische Stille, weder entsteht sie, noch verlischt sie, wie das bei den illusorischen Denkimpulsen der Fall ist. Wir besitzen somit bereits in uns den unerschütterlichen Geist der frei von Geburt und Sterben ist. All die 'verwirrten' Denkimpulse erschaffen Karmas, wandern durch kontinuierliches Entstehen und Verlöschen im endlosen Sterbe- und Wiedergeburten-Kreislauf herum, die 'un-verwirrten' dagegen nicht. Daher ist es nur nötig, dass wir in der Lage sind, zurück zum 'Un-verwirrten Geist' zurückzukehren. Wenn wir mit ihm 'vereint' im Einklang leben, haben wir uns bereits aus dem Sterbe- und Wiedergeburten-Kreislauf befreit – wozu denn noch irgendwo 'draußen' danach suchen? Daher wird oft im internen Zen-Kreis folgender legendärer Spruch verbreitet: ”Auf dem Rücken eines Büffels reitend, sucht man nach einem Büffel.“ bzw. ”Den Buddha auf dem Rücken tragend ist man auf der Suche nach dem Buddha.“

Daher steht bereits im Lotus-Sutra niedergeschrieben: „Einst gab es einen bettelarmen Mann. Als er einmal betrunken war, wurde ihm von einem Freund ein edles Juwel geschenkt. Er steckte es einfach so in seine Tasche und ging so in die Welt hinaus. Da er oft betrunken war, vergaß er, dass er bereits ein Juwel in der Tasche trug. Er wanderte irrend weiter durch die Gegend – weiterhin in Armut –, bis er eines Tages seinen alten Freund wieder traf, der direkt auf seine Tasche zeigte. Da erinnerte er sich wieder, dass er doch die ganze Zeit ein Juwel bei sich getragen hatte. Diese literarische Legende weist uns darauf hin, dass wir oft nicht unser eigenes wahres, wertvolles Vermögen anerkennen wollen, stattdessen nur trügerischen Gebilden hinterherjagen.

Nochmals möchte ich erwähnen, dass wir am Anfang des Praxiswegs uns eifrig darin üben, uns von all dem 'Schlechten, Bösen' zu trennen. Beim nächsten Schritt lassen wir auch das 'Rechte, Gütige' restlos los. Wir kehren zurück zu unserem eigenen formlosen Wahren Wesen, welches weder entsteht noch vergeht. Wenn wir dem Weg des Zen folgen, ist 'Tu', die empirische, spirituelle Zen-Praxis für uns keine leichte Herausforderung, vielmehr ist es eine sehr vornehmliche, exzellente Selbstbeherrschung der meisterlichen Kategorie.  

Es sieht so aus, als ob alle Wünsche unseres Lebens nur darauf gerichtet sind, den kleineren Zielen hinterher zu folgen: etwa einem noch besseren, wohlhabenderen Schicksal, Reichtum und Status, usw. als wir bisher erreicht haben. Dabei haben wir vielleicht eines vergessen: Selbst wenn all das, was wir uns gewünscht haben, tatsächlich auch in Erfüllung ginge, bzw. wir alles erreicht haben, bedeutet das nicht gleich, dass wir dem Glück auch tatsächlich nähergekommen sind, bzw. dass wir tatsächlich damit glücklich sind. Warum? Weil dieser leibliche Körper von vornherein in sich 'den Keim des Leids' trägt – im übertragenen und tiefgründigen Sinne versteht sich. Gibt es jemanden, der mit Sicherheit sagen kann, dass ihn niemals unerwartet eine tödliche Krankheit heimsuchen kann? Gibt es jemanden, der das Altern und Sterben abwenden kann? Alter, Krankheit und Tod sind bestimmt nichts Erfreuliches, oder? Wir alle besitzen somit ausnahmslos einen Bescheid, in dem ein Sterbe-Ultimatum festgesetzt und verkündet wurde, und die Uhr läuft einfach so. Nur noch ein paar Jahre, paar Monate oder Tage. Wie man die Frist bis zum Ende zählt, ist jedem selbst überlassen. Den Weg des Alterns, der Krankheit und des Sterbens müssen wir alle – ohne Ausnahme – gehen. Trotzdem sollten wir uns selbst die Frage stellen: Ist das Leben, das mit einem Sterbe-Ultimatum versehen worden ist, etwas Leidvolles oder Erfreuliches? Abermals davon unbeeindruckt, lassen wir das Leben samt Tagen und Stunden sinnlos vergehen. Wir verhalten uns so, als ob uns nichts interessiert, außer dieser Tag, dieser Moment, an dem wir ignoranterweise noch euphorisch feiern können. Was morgen passiert, geht uns scheinbar nichts an. Wenn wir noch nicht tiefgründig und weitläufig vorausschauen können, sind wir noch teilweise verblendet, unsere Weisheit ist somit noch nicht erweckt worden.

Die spirituellen Praktiker teilen  sich zumeist in zwei Gruppen auf: Die eine ist zutiefst von der bitterlichen Vergänglichkeit des Lebens an sich betroffen, so dass sie  permanent pessimistisch ist, sich selbst leicht entmutigt und somit jeden Plan in ihrem Leben leicht aufgibt bzw. fallen lässt. Dies ist eine sehr ungeschickte, eingeschränkte und einseitige Sichtweise. Die andere erkennt zwar auch, dass das Leben vergänglich ist, aber dennoch ist sie lebensfroh, heiter und gelassen. Für sie ist die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit des Lebens ein Naturgesetz, eine natürliche Gewalt, die uns alle betrifft – niemand kann dem entkommen. Wenn man diesem Weg aber nicht folgen will, muss man eben einen ganz anderen Weg suchen. Allein die pessimistische Haltung, wie gelähmt dasitzend und den Kopf hängen lassen, hilft nichts und niemandem. Folgendes ist eine viel positivere Sichtweise und Haltung eines schon geschickten Zen-Praktikers. Weshalb sind wir, wenn wir den buddhistischen Mittleren Weg wählen, und alle weltlichen Phänomene ganzheitlich untersuchen und erkennen, dass das Leben zwar 'leidvoll' ist, trotzdem noch lebensfroh? Warum nur? Die empirische Erfahrung bestätigt uns etwas Wichtiges: Dem sogenannten 'leidvollen Entstehenden und Verlöschenden' lebt noch ein 'Allzeit-Wahres' inne, welches weder entsteht noch vergeht, es ist stets und kontinuierlich in uns 'anwesend und innelebend'. Na dann, dumm sind wir ja nicht, wieso lassen wir uns von dem Vergänglichen weiter verblenden und ignorieren das Unvergängliche? Damit wir uns darüber beklagen, immer wieder Leidvolles erleiden zu müssen? Nun ist zumindest bekannt, dass Buddhas-Weg auf keinen Fall pessimistisch ist. Ganz im Gegenteil: Wir sind sehr optimistisch, heiter und lebensfroh, da wir das Leben aufrichtig verehren und wertschätzen, mehr als je zuvor.

Ein vorangegangener Zen-Buddhist, der seine Zen-Praxis stets meistert, ist auch jemand, der stets an eigenen Fehlern arbeitet und sich selbst verbessert. Seine eigene klare Bodhi-Geist-Erfahrung – das erleuchtete Erwacht-Sein – will er nicht nur für sich behalten, sondern ist auch gern bereit, die Erfahrung den nächsten Mitmenschen zu vermitteln, so dass auch sie zum Erwachen gelangen. Denn es ist sinnlos, das Leben so verschwenderisch und nichtsnutzig zu verleben, wenn wir ein ganzes Leben lang in der Finsternis der Verblendung verweilen. Und zwar nicht nur ein einziges Leben, sondern eines nach dem anderen, währenddessen sich so sehr viel Leid ansammelt. Daher hatte uns der Buddha bereits aufgezeigt, wie wertvoll es ist, überhaupt einen leiblichen Körper – wie diesen hier – zu haben. Es ist eine große Rarität, dass überhaupt ein menschliches Leben zustande kommt, so extrem unwahrscheinlich, wie es in einem legendären Beispiel aus den Sutren sinnbildlich dargestellt wird: „Auf der Meeresoberfläche treibt seit anfanglosen Zeiten ein ausgehöhlter Baumstamm ziellos hin und her. Eine blinde Schildkröte taucht alle hundert Jahre nur ein einziges Mal aus der Tiefe des Meeresbodens an die Wasseroberfläche auf, um weiter zum Sandstrand zu kommen. Die blinde Schildkröte landet nun ausgerechnet in dem Moment – mitten auf dem Meer – genau so im Hohlraum des bereits vermoderten Baumstammes, dass sie mit diesem Baumstamm als Floß alsbald am Strandufer landet.“  

Wir wissen sehr wohl, dass dieser leibliche Körper einerseits unbeständig und der Vergänglichkeit unterworfen ist. Andererseits jedoch kann er sehr wertvoll sein, wenn wir ihn geschickt, mit Bedacht und sinnvoll für 'Tu Thiền' / die 'spirituelle Zen-Praxis' einsetzen. Dann werden wir dem ewigen Strom des Sterbens- und Wiedergeburtenkreislaufs für immer entfliehen. Wir werden den Wahren Dharma-Körper vervollkommnen. So ähnlich wie die blinde Schildkröte: Dank des Baumstamms gelangt sie erleichtert ans Ufer. Jeden Tag, an dem wir noch am Leben sind, werden wir erwacht und friedlich sein. An jedem Lebenstag, an dem wir noch am Leben sind, werden wir fröhlich lernen, das Leben zu schätzen. Die aufrichtige, innere Freude werden wir erst erfahren, wenn wir nicht mehr verwirrt unterscheiden: 'da gut und dort böse' usw. Wie sieht diese innere Freude aus? Wenn die gedanklichen Impulse wie 'Gut und Böse …',  usw. innerlich nicht mehr aufgewirbelt werden, widerspiegelt sich unser friedlicher, klarer Geist nach außen und somit strahlen unsere Gesichtszüge freudige, frische Klarheit aus, eine wahrhaftige Freude. „Hihi! Ha! Ha! Ha!“,  Gelächter bis zur Ohnmacht. Die bis zur Ekstase erstrebte Freude sind vergängliche Freuden des Weltlichen. Wenn sie aber nicht der Weisheit entspringen, werden sie flüchtig und vorübergehend sein und nicht wahrhaftig.

Weltliche Menschen jedoch suchen gezielt ihre Freude in immer neuen, nervenkitzelnden Spektakeln, in erfinderischen Unterhaltungen, in Wettspielen um Gewinn und Verlust und so weiter und so fort. Hier nur ein kleines Beispiel: Beim Fußball klatschen und jubeln wir vor Freude über das glückhafte Tor der Sieger-Mannschaft mit, während die Verlierer sich in Trauer verlieren. Freude, die achtlos über die Trauer des Anderen hinwegsieht, ist einseitige und keine 'echte' Freude. Der Sieger feiert das Glück, der Verlierer versinkt verbittert in Trauer. Somit ist die weltliche Freude nur relativ. Freude und Trauer wechseln sich ständig gegenseitig ab. Die Freude wird nicht allein regieren.

Die meisten jungen Leute – darunter sind auch Schüler und Studenten –, wenn sie nur mit einem Ohr beiläufig hinhören, haben eine einseitige, falsche Auffassung von 'Tu Thiền', der 'Zen-Praxis' etwa wie: ”Wenn man dem Weg des Zen folgt, muss man auf alles verzichten, lässt man ja alles fallen, verdummt man ja …” bzw. „Wenn man nicht als dümmlich dastehen will, muss man sich soviel Wissen wie möglich in den Kopf stopfen, erst dann wird man als großer Denker, als Intellektueller angesehen werden, nur dann kommt man ja vorwärts …”. So etwa denken viele. In Wirklichkeit ist dies jedoch nicht der Fall. Zen-Praktiker wissen, wie man verwirrende und getrübte Denkimpulse fallen lässt, wie man von ihnen nicht mehr aufgewirbelt und gestört wird, um sich auf ein bestimmtes Aufgabengebiet bzw. eine bestimmte Tätigkeit, die man gerade tut richtig zu konzentrieren. Wenn unser Geist fähig ist, nicht mehr abzuschweifen, sondern sich aufrichtig und gezielt auf eine spezifische Aufgabe zu konzentrieren, kann er nur schärfer und klarer werden. Dümmlich? Wie ist das möglich? Das kann er nicht, das wird er nicht werden. Denn während wir etwas zu lernen haben oder eine Aufgabe zu lösen haben, werden wir uns auf das Lernen konzentrieren und nur darauf und werden nicht etwa andauernd herum träumen bzw. die Gedanken herumschweifen lassen. Dann ist es folgerichtig, dass wir um so mehr in der Lage sind, uns auf das Lernen zu konzentrieren und umso effizienter und qualitätsvoller wird unser Lernprozess sein. Somit können wir nur intelligenter, vernünftiger und klarer werden, von 'dümmlich' kann hier nicht die Rede sein. Ebenso, wenn wir bei einer Arbeit sind, werden wir uns nur auf das Wesentliche der Zielaufgabe richtig konzentrieren, dann kann das Ergebnis unserer Arbeit nur umso qualitätsvoller und ertragsreicher werden.

Weil die Menschen heutzutage nichts verpassen und nichts vergessen wollen, gerade deshalb vergessen sie aber umso mehr. Ihr Gedächtnis gleicht einer übervollen Kammer, die mit allem Möglichen überfüllt ist, so dass es innerlich gluckert, schlackert und schon aus allen Nähten zu platzen droht. Auf diese Weise ist das Gehirn überlastet, überfordert, zeigt sich oft übermüdet und protestiert in Form von Aufnahmeunfähigkeit, es will nichts mehr aufnehmen. Im Endeffekt ist daher das Gegenteil vorprogrammiert: Je mehr man auf den Gedächtnisinhalt zurückgreift, um sich an etwas zu erinnern, umso mehr vergisst man. Dagegen übt sich ein geschickter Zen-Praktiker gekonnt in der 'Kunst des Loslassens'. Denn je mehr er 'loslassen' kann, umso effizienter und gezielter kann er sich an etwas zurückerinnern. Die Erinnerung geschieht dann so leicht und natürlich, dass das erinnerte Ereignis mit voller Klarheit vor ihm erscheint und er es überraschend detailliert wiedergeben kann.

Wenden wir uns jetzt einem bekannten Phänomen zu: Wir sind völlig gestresst, unsere Gedanken sind vollkommen durcheinander geworden durch so viele verschiedene Aufgaben, wir vergessen vieles, eines nach dem Anderen. Jetzt genügt eine kurze Zen-Übung. Wenn wir uns Zeit dafür nähmen, könnten wir uns wieder an das und jenes erinnern. Daher berichten viele Anfänger, welche gerade mit ZaZen ['Tọa Thiền', vietn.] begonnen haben, dass sie sich im Alltag nicht gut an Wesentliches erinnern können, sich jedoch während des ZaZen an alles Mögliche erinnern. Nun wollen sie wissen, ob es sich hier um einen Zen-Praxis-Fehler handelt? Dazu habe ich ihnen erklärt, dass dies kein Fehler ist. In der täglichen Arbeit wird der Geist häufig von stressigen Dingen überschattet, in solch einem Wirrwarr können wir uns nur noch schwer an etwas Bestimmtes erinnern. Aber sobald wir in die Zen-Übung 'eintreten', kommen reine Stille und Klarheit wieder zum Vorschein, nun wird jede kleinste Erscheinungsform bzw. jedes 'In-Erscheinung-Treten' der geistigen Aktivitäten auf der 'Leinwand des Geistes' sehr deutlich auffallen. Das ist einer der Gründe, warum wir uns 'so leicht' an alles Erdenkliche erinnern. Wenn wir aber dafür sorgten, dass wir uns der Erinnerung bewußt sind, dass sie da ist, uns aber immer 'bewußt bleibt' und wir sie als solche erkennen – als Erinnerung, als wesenlosen Schein, nicht wahrhaftig und nicht 'echt' –, dann lassen wir davon 'los', dann wird kein Grund für einen dauerhaften Fehler gelegt. Wichtig ist aber, dass wir ihr [der Erinnerung, etc.] während des ZaZen nicht 'nachfolgen'.

Selbst der weltverehrte Buddha, als er einst am Bodhi-Baum sitzend meditierte bis er vollkommene Erleuchtung erlangte, verwirklichte auch unzählige transzendente Wunder ['Thần Thông', vietn.]. Ein Bruchteil davon ist die 'Vollendete-Erleuchtete-Erkenntnis sämtlicher Vorleben' ['Túc Mạng Minh', vietn.]. Der Erhabene Buddha konnte sich soweit zurück an unzählige Vorleben mitsamt dazugehörigen Ereignissen erinnern, als ob diese gerade gestern stattgefunden hätten. Während wir alles 'loslassen', haben wir bei uns gedacht, werden wir alles vergessen, aber das komplette Gegenteil ist der Fall: Wir erinnern uns besser daran als je zuvor. Dagegen bringt das übliche mühsame Herumwühlen im Gedächtnislager nicht viel hervor. Daher nennen wir unseren Geist in der buddhistischen Terminologie allgemein eine 'Speicherkammer'. Eine Funktion des Geistes nennen wir 'Speicher-Bewußtsein', indem alle unsere 'Samenkörner', 'schlechte' wie 'gute' aufbewahrt werden. Wenn aus diesem Speicher alle gedanklichen Verwirrungen, Impulse der Unterscheidung und Beurteilung, verwirrender Müll usw. hinaus 'gefegt' bzw. 'entsorgt' werden, wird dieser Speicher sofort zum 'Tathagatha-Speicher' oder 'Buddha-Natur- Speicher' usw. umgewandelt werden und nicht etwa in ein 'leeres Nichts'.

Wir können also während der 'Tu Thiền' / Zen-Praxis ruhig 'alles loslassen'. Bitte denken wir nicht, dass wir deswegen alles verlieren. So ist es nicht, sondern wir können selbst entscheiden, wann und ob wir uns an etwas erinnern und dann erinnern wir uns klar und deutlich. Falls wir das nicht wollen, bestimmen wir das auch selbst. Wenn jemand so weit ist, gehört er zu denjenigen, die in der Lage sind, sich selbst und alle Dharmas zu beherrschen. Im Leben wird er heiter und gelassen sein, wird sich allen Umständen anpassen und allen verwirrenden Dharmas gegenüber unerschütterlich bleiben können. Daher gilt für die fortgeschrittenen Zen-Praktiker bzw. für interne bis meisterliche Kreise: Je exzellenter und aufrichtiger ihre 'Thiền' / Zen-Praxis, desto beachtlicher ist das Ergebnis, zum Beispiel wie bei den ehrwürdigen Zen-Mönchen der meisterlichen Ebene. Die Meister achten kaum mehr auf  'Kleinigkeiten' drumherum,  jedoch, falls es wirklich nötig ist, durchblicken sie die Lage, an Ort und Stelle deutlich und klar, ohne lange zu überlegen bzw. lange herum grübeln zu müssen. Und wie sieht es bei uns aus? Wir wissen nichts über das, was wir wissen sollten und all das Unwesentliche, was für uns eigentlich unwichtig ist, kennen wir sehr detailliert. Diese Angelegenheit spiegelt einen kleinen Unterschied zwischen uns und den ehrwürdigen Meistern wieder.

Als Schlusswort für den heutigen Vortrag fasse ich kurz wie folgt zusammen: Überprüfen wir genau, welche Aufgaben entscheidender und wichtiger sind und kümmern wir uns aufrichtig darum; die die unwichtig sind, lassen wir langsam los. Ein geschickter Zen-Praktizierender kehrt immer wieder zu sich selbst zurück, spiegelt sich innerlich wieder, erkennt, lebt und verwirklicht den eigenen wahrhaftigen Geist. Alles andere ist unbeständig, vergänglich und nur flüchtiger Schein, davon sollten wir unsere Aufmerksamkeit nicht ablenken lassen.

In der täglichen Übung unseres Praxisweges als Zen-Praktizierender erfahren wir alles empirisch. Jeder Schritt – wie klein er auch sein mag –, den wir auf dem Weg des Erwachens gehen, ist bereits ein Schritt zur Erkenntnis – zu dem Tor, das zur Erleuchtung und vollkommener Weisheit führt. Daher ist die Überlegung, ob Zen 'dumm macht' oder 'vielleicht nicht' – hin und her abwägen – überflüssig und endgültig unbegründet.  


***

Oberster Abt Zen-Meister Thích Thanh Từ
Dharma-Vortrag vom 30.12.2000
in  Da Lat - Bambuswald-Zen-Kloster
Thiền viện Trúc Lâm Đà Lạt, Vietnam

Erste deutsche Übersetzung aus dem Vietnamesischen von
Chính Tâm
Mit persönlicher Zustimmung des Obersten Abtes Zen-Meister
Thích Thanh Từ
Originaltitel des Vortrages:
'THẾ GIAN CHÚ TÂM VIỆC NHỎ, BỎ VIỆC LỚN'
Titel des Übersetzers: 'Paradoxe Gegensätze'

Diese Übersetzung unterliegt strikt den

'8 Richtlinien für die buddhistischen Zen-Gelehrten und Sutren-Übersetzer'.

Vaterstetten, Germany den 1. Januar 2009

Mitwirkung bei der deutschen Version  von Barbara, Sandra, Mechthild, Michael
und Freunde der Hằng Giác - Bodhi Kontinuum Zen Gruppe
Yên Tử - Bambuswald Zen Tradition - Vietnamesischer Zen Buddhismus
München, Germany den 19. April 2015



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