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"Jeder Tritt zertrümmert unzählige Buddha-Reiche !

Jeder Blick verstummt ganzes Dharmakaya !"

Dienstag, 30. Juli 2013

MAHA PRAJNA PARAMITA HERZ SUTRA DIE ABHANDLUNG


MAHAPRAJNAPARAMITA-HERZ-SUTRA - DIE ABHANDLUNG

[MAHA BÁT NHÃ BA LA MẬT ĐA TÂM-KINH - GIẢNG GIẢI]


Thích Thanh Từ


VORWORT


Prajna ist das Eingangstor des Zen-Hauses, daher: 'Zen-Tor ist das Leerheitstor- oder auch 'Tor ohne Tor'. Während der Gründerzeit des Chân Không Zen-Klosters [1970] habe ich schon dieses Herz-Sutra als Nacht-Liturgie für die Zen-praktizierenden Mönche und Nonnen unterrichtet. Und diese Abhandlung des Paramita-Sutras wurde später als Buch herausgegeben und bereits veröffentlicht.


Mit der Zeit habe ich festgestellt, daß es noch einiger Korrekturen bedarf, daher habe ich im Jahr 2000, als ich für eine interne Klausur bei Vũng Tàu als Lehrer eingeladen war, dieses Paramita-Herz-Sutra für die Mönche, Nonnen und Laien-Buddhisten erneut unterrichtet. Die Belehrung über dieses Sutra dauerte die ganze Klausursaison über. Die Schüler haben die entscheidende Bedeutung der Prajnaparamita-Weisheit für die Buddhisten, die dem Weg des Buddha folgen, erkannt. Daher haben sie meine Wörter aufgeschrieben und baten um die Zustimmung, den Vortrag als Buch zu publizieren. Ich habe mit Freude zugestimmt. Hierzu schreibe ich noch ein paar begleitende Wörter als Vorwort, um das Buch einem breiteren Leserkreis vorzustellen.


Dieses Prajnaparamita-Herz-Sutra ist durch einen äußerst abstrakten Wortgebrauch und den äußerst tiefgründlichen Inhalten gekennzeichnet. Mögen seine Leser viel Zeit und Fleiß mitbringen, vor allem sehr tiefgründig nachsinnen, dann werden von ihnen äußerst rare, wertvolle Schätze des Buddha-Dharma, welche in diesem Buch komprimiert und konserviert sind, entdeckt.

Thuong Chieu Zen-Kloster

Sommer-Klausuranfang 2001

Thích Thanh Từ



1.
 TITELERKLÄRUNG


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MAHA PRAJNA PARAMITA HERZ SUTRA -
- DIE ABHANDLUNG - Essenz
 Version
Autor THÍCH THANH TỪ - 
HEFT DIN A5 - 48 SEITEN
Der Prajnaparamita-Herz-Sutra Text wurde von dem ehrwürdigen Huyền Trang [chin. Umlaut: Huyen Tschang] im Jahr 649 [unserer Zeitrechnung] in der Từ Ân Pagode übersetzt. Insgesamt umfasst er 260 [chin. oder alt vietn. ] Schriftzeichen . Der vollständige Titel des Sutras setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Der erste Teil stammt aus dem Sanskrit: 'Mahaprajnaparamita-Sutra“, der zweite von dem chinesischen Umlaut für 'Herz'. In der Sanskrit-Version lautet er: Mahaprajnaparamita-Hrdaya-Sutra.

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'Maha' wurde ins Chinesische und Vietnamesische mit 'grandios', 'groß' übersetzt. 'Prajna' bedeutet 'Weisheit', 'Paramita' bedeutete ursprünglich 'über das andere Ufer hinaus', mittlerweile wird es zusätzlich im übertragenen Sinne als 'vervollkommnete', 'unübertreffliche Wahrheit' übersetzt. Somit bedeutet 'Mahaprajnaparamita': 'Große, vervollkommnete, unübertreffliche Wahrheit'.

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'Herz-Sutra' ist das Sutra, das sich mit dem essenziellen Wesen des Geistes beschäftigt.


Eine der wichtigen Stellen im Herz-Sutra 
[Hauptwerk] lautet:

„Prajna-Weisheit weiß von nichts, jedoch gibt es nichts, was sie nicht weiß.“

„… weiß von nichts, …“ im Sinne der Prajna-Weisheit bedeutet an dieser Stelle, daß sie jeder Art von Schein gegenüber kein unterscheidendes und illusorisches Bewußtsein aufwirbelt. Und „… jedoch gibt es nichts, was sie nicht weiß.“, weil Prajna gleich das Rechte-Bodhi-des-Rechten-Rang bedeutet: Sie ist stets leuchtend und bewußt, vergleichbar mit einem klaren Spiegel, in dem alle Bilder, Gegenstände oder Menschen als Schein vollständig abgebildet werden. Bewußt, jedoch keine Unterscheidung und illusorisches Bewußtsein aufwirbeln lassend, das ist die reine Bewußtheit des Wahren Geistes.


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2. ERLÄUTERUNG DES INHALTES


„Als der Edle Erhabene Bodhisattva Avalokiteshvara sich in die tiefste Praxis der Prajnaparamita versenkte, durchleuchtete er das innerste Wesen der Fünf Skandhas und sah – gänzlich sind sie leer. So war er augenblicklich von jeglichem Leid entfesselt – restlos befreit.“

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Das am Schwersten zu verstehende Wort von obigem Absatz ist der Ausdruck 'leer' [Leere, Leerheit], weil das ganze Mahaprajna-System aus 600 Bänden besteht und schließlich nur noch als Extrakt in ein paar Sätze zusammengefasst wurde, ist es äußerst schwierig für den normalen Leser, die dahinter stehenden Bedeutungen herauszufinden.
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Wie kann man überhaupt „… das innerste Wesen der Fünf Skandhas …“ so durchleuchten, daß „ sie gänzlich leer sind“? Die 'Leerheit der Fünf Skandhas so zu durchleuchten' bedeutet hier, daß es von sich aus kein 'Selbst' hat und nicht etwa, daß es nichts gibt oder sie leere Räume bzw. Vakuum sind.
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Wenn 'leer' als 'nichts' verstanden wird, begeht man den Fehler des Festhaltens und zwar an 'nichts' ['nihilistisch' seiend]. Wenn der Begriff 'Leere', 'Leerheit' so verstanden wird, ist es ein Irrtum und nicht der Geist des Prajna. Der Geist des Prajna zerstört das Festhalten an Sein und Nicht-Sein.
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Wenn 'Leere' oder 'Leerheit' als leerer Raum oder Vakuum bzw. noch als 'wahre Leere' verstanden wird, so ist das eben nicht in Ordnung. Denn die 'Realität', das Wesen des eigentlichen leeren Raums, Vakuum und aber auch der 'wahren Leere' lassen sich nicht begrifflich erfassen, weder begreifen noch erklären.
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Um den Begriff 'Leere', 'Leerheit' [Sanskrit: 'Sunyata'] tiefgründiger zu begreifen, sollten wir uns einen Überblick über die drei buddhistischen Lehrperioden verschaffen:
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1. Frühbuddhistische Lehrperiode: Hier wurden die 'Vier edlen Wahrheiten', die 'Zwölf Zusammenhänge der Ursache und Wirkung' [Kausalität] als 'letztendliche Wahrheit' gelehrt. Die o.g. Lehre beruht auf der 'oberflächlichen' Ebene des Geistes, wie: Form oder Nicht-Form, Sein oder Nicht-Sein, Gut und Böse, usw. usf.

2. Hauptbuddhistische Lehrperiode: Die 'Leere' bzw. 'Leerheit' ist Kern der Lehre und bezeichnet gleichzeitig das Wesen der Prajna-Weisheit.

3. Spätbuddhistische Lehrperiode: Über die verborgene Quantenwelt der 'Vervollkommneten Wahren Leere'.
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Der Begriff 'Leere' im Geist des Prajna bedeutet 'leer von einem Selbst', 'selbstlos' bzw. 'Selbstlosigkeit'. Wenn wir den Geist der Prajna studieren, untersuchen wir somit die 'Leerheit'. Was bedeutet die 'Leerheit'? 
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Zunächst über 'Eigenschaften' der 'Leerheit': Wenn von 'charakteristischen Eigenschaften' die Rede ist, dann sind 'Leerheit' oder 'Eigenschaft der Leerheit' nur Begriffe, die etwas beschreiben oder andeuten, welche selbst auch einen festen, unveränderlichen Charakter und Eigenschaften besitzen.
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Aber die 'Leerheit', welche hier gelehrt wird, deutet darauf hin, daß sämtliche Dharma [manifestierte und noch nicht manifestierte Phänomene – geistige wie materielle im All], die es gibt, nicht unveränderlich und nicht beständig sind – sie besitzen keine 'für immer gleichbleibenden Eigenschaften'. Alle Phänomene sind in Bewegung und Wandlung, sie verändern sich, sind unbeständig und somit 'unecht'. Der 'Prajna-Geist' widerlegt die These des 'dualistischen Selbst', das besagt, daß alle Dharma, jedes sein eigenes Selbst besitzt, beständig und 'echt'. Diese Ansicht über das Selbst entspricht nicht dem Geist der Prajnaparamita.
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Alle Dharma [Phänomene] der Welt sind in sich unbeständig und stets in Bewegung, daher sind sie nicht 'echt' oder 'fest'. Sie bedingen einander, sie sind entstanden durch gegenseitig bedingte Ursachen und Wirkungen, daher haben sie auch ihre eigene Existenz, sie sind in sich kein 'Nichts'.

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„… Fünf Skandhas und sah – gänzlich sind sie leer. …“ bedeutet, daß alle Fünf Skandhas [geistige, materielle] keine festen, also unveränderliche Eigenschaften haben. Die tiefgründliche Kontemplation darüber, daß alle Fünf Skandhas unbeständig sind, „… von jeglichem Leid entfesselt – restlos befreit.“ Warum? Weil alle Lebewesen seit jeher eine 'Krankheit' erleiden, man nennt es das Festhalten an einem falschen Selbst [falsches Selbst-Festhalten].

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Die erste 'Krankheit des Selbst-Festhaltens' ist ein Festhalten an einer Beständigkeit des eigenen Selbst. Das bedeutet, jeder bildet sich eine Einsicht über seinen eigenen Körper und Geist, daß dieser 'echt' ist, daß sein eigener Geist, sein eigener Körper beständig und unveränderlich ist.
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Fragen wir uns selbst: Gibt es jemand unter uns, der erkennt, daß unsere Person stets in Wandlung und veränderlich ist? Seit der Geburt bis zum Drei-/Vier-Jährigen und bis zum heutigen Tag als Vierzig-/Fünfzig-Jähriger, ist diese Person von damals und von heute eine oder sind es zwei? Sind es dieselben oder sind es verschiedene? Wenn wir der Ansicht sind, daß diese Person eins ist und unveränderlich, dann gehört diese zum Festhalten ans falsche Selbst. Aber denken wir bitte über unsere eigene Person nach, ob die ganzen Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung – von der mentalen Psyche bis hin zu körperlichen Veränderungen – tatsächlich beständig, tatsächlich unveränderlich waren, tatsächlich ein und dasselbe sind? So tiefgründig kontemplierend, werden wir feststellen, daß alles nicht mehr dasselbe ist, wie es war, daß alles doch unbeständig und nicht unveränderlich ist. Somit ist das Festhalten an einem unveränderlichen Selbst eine falsche Einsicht der Menschheit.
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Die zweite 'Krankheit des Selbst-Festhaltens' ist ein Festhalten an einem allmächtigen Selbst. Dieses Festhalten ist das Fundament für das weitere Festhalten und das ist die Einsicht über sein eigenes Selbst, daß er/sie der eigenmächtige Herr über seine/ihre eigene Person ist – körperlich, biophysikalisch wie mental-geistig. Jeder dachte sich innerlich, daß dieser Körper, das 'Ich', 'mein eigenes Ich' allein mir gehört, d.h. 'Ich' habe die vollständige Macht über mein eigenes 'Ich-Selbst'. Vergleichbar mit der Vorstellung, daß ich der Herr über mein eigenes Haus bin und selbstverständlich gehören dazu sämtliche Einrichtungen und Gegenstände, wie Tische und Stühle des Hauses. Bin ich es allein, der das Recht hat, diese Gegenstände zu benutzen und hat kein anderer die Befugnis, das Recht, die Einrichtung zu verändern bzw. die Reparatur vorzunehmen?
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Aber sind wir wirklich der Herr über unsere eigene Person oder nicht? Von der körperlich-physikalischen Seite her wünsche ich mir, daß mein Körper schön und wohlgesund bleibt, aber in der Tat ist das Ergebnis ein anderes. Denn ab und zu wird dieser Körper von verschiedenen Krankheiten befallen. Dafür bedarf es entsprechender Arznei, Medikamente und Behandlungen zur Reparatur, evtl. auch Genesung. So sehen wir ein: ich bin nicht der vollständige Herr über meinen eigenen Körper.
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Jetzt ist der mental-geistige Aspekt an der Reihe: Ich bin noch lange nicht der Herr über meinen eigenen Geist, z.B. in dem Fall, wenn ich mich auch nur ein paar Minuten von zerstreutem, verwirrten Denken befreien möchte, ist das schon schwer genug, so daß es sogar selten überhaupt einmal möglich ist. Geschweige denn, daß mein eigener Geist rein und befreit ist. Wir werden bald feststellen, daß es noch seltener ist, daß diese Wünsche realisiert werden können.
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Diese zwei Einsichten und Festhalten an einem falschen Selbst, daß das Selbst beständig und allmächtig ist, sind falsch. Unser Leid keimt aus diesen zwei 'Krankheiten des Festhaltens'.
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Um die 'Krankheit des Festhaltens' an einem Selbst zu zerstören, hat uns Buddha in der frühbuddhistischen Lehrperiode belehrt, daß dieser Körper durch vier elementare stoffliche Bestandteile, durch Bedingtheit entstanden ist [z.B. Erde, Wasser, Wind/Luft und Feuer/Wärme]. Diese Lehre ist gezielt für diejenigen gedacht, die an materiellen Aspekten festhalten.
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Wogegen die Belehrung, daß dieser Körper aus Fünf Skandhas durch Bedingtheit zustande kommt [z.B. 1. Form, 2. Empfindung, 3. Denken, 4. Wandlungen, 5. Bewußtsein], für diejenigen gedacht ist, die an 'geistigen' Aspekten festhalten.
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Wenn dieser Körper aus vier stofflichen elementaren Bestandteilen, wie 'Erde', 'Wasser', 'Wind' und 'Feuer' durch Bedingtheit entstanden ist, bedeutet das, daß sie in sich nicht 'beständig' und 'unveränderlich' sind. Unter diesen vier Bestandteilen gibt es keinen, der ein Vorherrscherrecht [ein Selbst] über die anderen besitzt. Daher erkennen wir, daß dieser Körper kein Selbst hat bzw. in sich selbstlos ist.
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Für das Festhalten an geistigen Aspekten hatte Buddha über die Bedingtheit der 'Fünf Skandhas', welche das Zustandekommen dieses Körpers bewirken, belehrt. Dieses bedeutet, daß es außer Form-Skandhas, die auf diesen Körper hindeuten, noch die anderen 'Vier Skandhas', wie 'Empfindung', 'Denken', 'Wandlungen' und 'Bewußtsein' gibt, welche zu dem mental-psychischen Aspekt gehören.
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Zu 'Empfindung' gehören 'Gefühle' und 'Wahrnehmungen', z. B. in dem Fall, wenn mit unseren Augen die Schönheit betrachtet wird, nehmen wir diese als 'Schönheit' wahr und daraus wird Interesse und Freude entwickelt. Diese Phänomen wurde als freudige Wahrnehmung der Augen bezeichnet. Ebenso, wenn hässliche, leidvolle Bilder betrachtet werden, nehmen wir diese Bilder als hässliche, leidvolle Bilder wahr und fühlen uns leidvoll, bzw. entwickeln daraus Hass. Dies wurde als leidvolle Empfindung der Augen bezeichnet.
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Ebenso mit dem Hör-Sinnesorgan, dies wird als glückliche bzw. leidvolle Empfindung der Ohren genannt. Somit, wenn sechs Sinnesorgane, wie Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und das Denken in Interaktion mit den sechs äußerlichen Reizen in Verbindung stehen, entstehen daraus entsprechende Gefühle und Wahrnehmungen. Wenn daraus Freude und Glücklichsein entstehen, wird dies als freudige Empfindung bezeichnet. Und wenn daraus ein Gefühl des Abstoßens bzw. Ablehnung entsteht, wird es als leidvolle Empfindung bezeichnet. Die Empfindungen der Freude, Trauer, Liebe und Hass gehören zu den Skandhas der Empfindung und gehören zu dem psycho-mentalem, geistigem Bewußtsein.
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Denken bezieht sich auf illusorische Denkvorgänge/Erinnerungen, zum Beispiel über sämtlichen, je betrachteten imaginären Schein. Ein Beispiel, wenn wir uns jetzt an die gespeicherten Bilder von Städten und Bergen, die wir jemals gesehen und abgespeichert haben, erinnern, dann erscheinen diese Bilder oder Szenen wieder auf unserer Leinwand des Geistes. Zusammengefasst gehören Denken, Erinnerungen über Vergangenheit bzw. Zukunft sämtlich zum Geistigen bzw. geistigen Unterscheidungsbewusstsein.
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'Wandlung' in diesem Sinne beschreibt sämtliche Denkprozesse, welche sich als Entstehen und Verlöschen unaufhörlich aneinander reihen und nie an einem Punkt stehen bleiben. Konkreter beschreiben 'Wandlungen', wie das Wort besagt, die Elemente, vom Feinstofflichen bis zum Geistigen, die bedingt miteinander in Bewegung sind. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn wir über etwas nachdenken, beschäftigt sich unser Geist mit unterschiedlichsten Denkaufgaben, die sich ineinander verknüpfen. Gleichzeitig denken wir über sehr unterschiedliche Sachen nach und zwischen ihnen gibt es keine Grenzen. Die Denkprozesse sind somit kontinuierlich ineinander verwoben, folglich sind sie Wandlungsprozesse des Denkens.
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Vergleichbar mit einem Läufer auf dem Fußweg, die Schritte reihen sich aneinander, der eine ist noch nicht zuende, da folgt schon der nächste, wenn er nicht anhält. 'Wandlungen' gehören zum geistigen Bewußtsein, hier ist zunächst von der Denkbewusstseinsebene die Rede – konkreter der Unterscheidungsaspekt des Geistes. Ein Beispiel: Wenn unsere Augen Formen betrachten, wird zwischen Schönheit und Hässlichkeit unterschieden. Ebenso mit den Ohren, wenn wir die Geräusche und Töne hören, werden dabei die angenehmen und nicht angenehmen Töne unterschieden usw., usf. Diese Unterscheidungen gehören zum Bewußtseins-Aspekt und sind somit auch geistig zu verstehen.
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'Empfindung', 'Denken', 'Wandlung' und 'Bewußtsein': Diese Vier Skandhas gehören zu dem 'Geist'. Da der Geist überhaupt durch diese vier genannten Bausteine funktioniert, können sie daher niemals in sich beständig und unveränderlich sein. Da keiner von den vier oben genannten unabhängig von den anderen fungieren kann, sind sie bedingt von einander, daher haben sie kein 'Selbst'. Keiner besitzt ein Selbst, um über die anderen zu bestimmen.
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Wieso wurden diese fünf als 'Skandhas' bezeichnet? 'Skandha' bedeutet [Wörtlich: 'speichern' und 'ansammeln'; Sinngemäß: "Verborgene Zusammenkunft"]. Die 'Formen' wurden hier als stofflich bis zum Feinstofflichen verstanden, welche in diesen vier materiellen Manifestationen [Erde, Wasser, Wind, Feuer] vorkommen, grob ist dieser leibliche Körper gemeint. Die 'Empfindung' beinhaltet in sich sechs Empfindungen der sechs Sinnesorgane [hier sind sämtliche interaktiven Prozesse im geistigen und physikalischen Aspekt des Verarbeitungsprozesses zwischen Sinnesorganen untereinander und gegenüber äußerlichen Reizen gemeint].
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In der frühbuddhistischen Lehrperiode [entspricht Theravada-Buddhismusverkündete Buddha die selbstlose Dharma-Lehre und lehrte über die selbstlosen Eigenschaften des 'Selbst', um zwei 'Krankheiten des Festhaltens' zu bekämpfen, weil unser Körper, unsere Person durch die Bedingtheit und das Zusammenwirken der vier materiellen Elemente und der fünf oben genannten 'Skandhas' zustande gekommen ist. Daher sind sie nicht beständig und unveränderlich, somit gibt es auch kein Selbst, das über sie herrscht.
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Selbstlos bzw. Selbstlosigkeit bedeutet hier, daß es kein unveränderliches und übermächtiges Selbst gibt. Und nicht etwa, wie viele Menschen diesen Begriff missverstanden haben, selbstlos oder Selbstlosigkeit als 'Nichts', als 'ohne Person', 'ohne Körper'. Wenn wir unsere eigene Existenz als 'ohne Körper', als 'ohne Person' verstehen – wer bewegt sich und lebt denn dann gerade, wer empfindet gerade Leid, Glück, Freude, etc.? Nur weil dieser Körper existiert, können wir überhaupt erst Wärme, Kälte, Schmerzen, Unangenehmes empfinden. Nur weil ein 'Geist' existiert, können wir erst etwas empfinden, denken bzw. unterscheiden. Aber dieser 'Körper' und 'Geist' sind durch Bedingtheit entstanden, daher sind sie nicht einheitlich, nicht beständig und haben kein allmächtiges Selbst. Dies wurde als 'selbstlos' bezeichnet.
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Es gibt leider sehr viele Menschen, die fälschlicherweise eine Sicht pflegen, daß ihr eigener Körper und Geist seit jeher unveränderlich geblieben, ein und dasselbe sind. „Ich beherrsche mich – ganz und gar meinen eigenen Körper und Geist! … Ich bin selbständig! … Es gibt nichts anderes, daß das Recht hat über mein Selbst zu bestimmen! …“. Aber in Wahrheit sind unser Körper und unser Geist seit jeher ständig in Verwandlung, mannigfaltig sind sie verändert worden und in der Tat haben wir noch nie die vollkommene Beherrschung über unseren eigenen Körper und Geist selbst gehabt. Wenn wir aber noch keine rechte Sicht entwickelt haben und viel mehr krampfhaft an der falschen Sichtweise festklammern, ist es das, was mit 'Festhalten' benannt wird. Die festklammernde, falsche Sicht über Körper und Geist, daß diese beständig sind und ein Selbst besitzen, wurde 'falsches Selbst-Festhalten' genannt. Und das Festhalten an einem falschen Selbst, kurz gesagt 'Selbst-Festhalten' genannt, ist die Ursache aller Ursachen des Leides im Leben.
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In der zweiten Lehrperiode redete der weltverehrte Buddha nicht mehr darüber, daß dieser Körper echt oder nicht echt ist, auch nicht mehr darüber, daß dieser aus vier Elementen zusammengesetzte Körper bzw. die 'Fünf Skandhas' durch Bedingtheit entstanden sind, sondern er ging direkt auf die 'Fünf Skandhas' ein, daß 'Skandha' für 'Skandha', einer nach dem anderen, auch unbeständig sind. Weil jedes 'Skandha' für sich und in sich keinen erstarrten und unveränderlichen Charakter besitzt, sind sie stets in Bewegung, Veränderungen unterworfen und durch andere 'Skandhas' bedingt. Daher sind auch sie nicht beständig, ohne Selbst und wurden als selbstlos bzw. ohne Selbst bezeichnet. Somit sind diese 'Fünf Skandhas' [geistiges, sinnliches Innenleben] in sich nicht beständig. Wie könnte dann das Ergebnis dieser zusammenwirkenden 'Fünf Skandhas' – kurz gesagt: dieses Körpers, das Selbst als Person und Ego – auch einheitlich und unveränderlich sein?
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Ein simples Beispiel ist unsere Hand: Wenn sich die fünf Finger zusammenballen, wird daraus eine Faust. Wenn diese Faust in sich fest und unveränderlich wäre, dann würde diese 'Faust' bestimmt nicht darauf warten, daß sie erst durch das Zusammenballen der fünf Finger zu einer Faust wird. Denn sobald die Finger wieder ausgestreckt sind, wie kommt denn dann die Faust zustande?
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Fragen wir uns jetzt: Von den fünf Fingern, jeder einzeln – welcher der Finger ist denn der Herr dieser Faust? Weil keiner von diesen fünf Fingern der alleinige Herr der Faust ist, ist die These über ein Selbst der Faust bzw. daß die Faust ein Selbst hat, nicht begründbar. Daß die fünf Finger zusammengeballt sind, redet darüber, daß sie in Bewegung und nicht beständig sind. Denn, wenn die Faust beständig wäre, dann würde diese nicht darauf warten, daß sie erst durch das Zusammenballen der fünf Finger entsteht. Und das bedeutet auch, daß die Faust jetzt überhaupt erst zustandegekommen ist. Wenn die Faust in sich 'beständig', also unveränderlich ist, – wo ist sie jetzt, wenn sich die Finger, einer nach dem anderen, ausstrecken? Wo verschanzen sich jetzt diese 'Beständigkeit' und das 'Selbst'?
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Das bedeutet: Der Sinn der Beständigkeit und des Selbst der Faust ist unbegründet. Vorher gibt es keine Faust, sie ist für einen Moment durch Bedingtheit der Ursache und Wirkung scheinbar entstanden. Wenn die Ursache sich verändert, ändert sich die Wirkung. Hier verliert die Faust ihre Form, daher ist die Form der Faust unbeständig, sie hat kein Selbst und ist daher auch veränderlich.
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Noch eine Stufe tiefer, wenn wir die einzelnen Finger untersuchen: Sind sie 'echt', sind sie in sich unveränderlich? Jeder Finger für sich: Ist er auch beständig und besitzt auch ein Selbst? Wir müssen feststellen, daß auch ein Finger in sich ebenso durch Bedingtheit des Wirkens aus Sehnen, Blut, Fleisch, Knochen etc. zustande gekommen ist, daher besitzen auch sie nicht diese zwei Eigenschaften: Beständig und Selbst. Bei den anderen vier Fingern verhält es sich ebenso. Für die Faust gibt es auch keine Ausnahme, denn die Finger sind Bestandteile der Faust, jeder in sich eigen und doch: Finger, wie die Faust sind miteinander durch Bedingtheit manifestiert. Sie sind die Erscheinung der Ursache und Wirkung, sind vorübergehend, nicht echt und unbeständig.
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In diesem Absatz des Prajnaparamita-Sutras belehrte der Buddha über jedes 'Skandha' vereinzelt. Das innerste Wesen aller 'Fünf Skandhas' wurde durchleuchtet mit dem Ergebnis, „… gänzlich sind sie leer …“. Weil es gänzlich leer ist, daher wird einer durch die Erkenntnis darüber „… von jeglichem Leid entfesselt, restlos befreit …“. Wie kann das Leid überwunden werden? Wo ist die Wurzel des Leides, wo kommt es her? Wenn einer gefragt wurde, wer hier leidet, antwortet er: „Ich leide.“, „Ich bin unglücklich.“, etc. Und „Was bin ich?“ – so antwortet er: „Ich bin das Selbst, das Ego.“, „Ich bin ich.“, „Ich bin die Person.“, die immer ein und dieselbe ist. Dieses 'Ego', das 'Ich' ist der Herr des Ganzen.
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Wenn dieses 'Ich' als immer ein und dasselbe wahrgenommen wird und dann dieses 'Ich' mit unerwünschten Ereignissen konfrontiert wird, die seinem Interesse widersprechen, wird daraus 'Leid' entstehen und es wäre sogar eine 'Katastrophe', wenn sein Ansehen einen Wertverlust erleiden würde. Die Ursache des 'Leides' ist demzufolge das Festhalten an einem 'Selbst'. 
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Wenn dieses 'Selbst' folglich 'leer' ist, ist das Leid deswegen auch 'leer'? Ist das Leid noch da? 'Selbstlos' bzw. 'leer' bedeutet nicht, daß hier ein 'Nichts' herrscht, sondern 'leer' ist 'leer von einem Selbst', das 'Ich' ist somit unbeständig. Weil das 'Selbst' ['Ich', 'Ego', 'Person'] – die momentane Erscheinung – als Ergebnis des bedingten Wirkens zwischen Ursache und Wirkung manifestiert ist, daher ist es stets in Bewegung, Wandlung und Veränderung, es ist nur vorübergehend, scheinhaft und 'unecht'.
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'Leer von einem Selbst', 'unbeständig' ist der Sinn des Begriffs 'Selbstlos'. Wenn jedes 'Skandha' vereinzelt betrachtet, jedes in sich stets in Bewegung, 'leer von einem Selbst' und unbeständig ist, wie kann das dann sein, daß dieser Körper, der aus 'Fünf Skandhas' zusammengesetzt ist, beständig ist und ein 'Selbst' besitzt? Daher lautet der Satz des hier besprochenen Themas: … durchleuchtete er das innerste Wesen der Fünf Skandhas und sah – gänzlich sind sie leer. So war er augenblicklich von jeglichem Leid entfesselt – restlos befreit …“
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Wenn wir in der Lage sind, so tiefgründig über unsere eigene Person – bio-physikalisch wie geistig – zu kontemplieren, daß sie ihrem Wesen nach gleichsam einen unbeständigen Charakter besitzen, erkennen wir, daß sie aus Zwischenergebnissen der unzähligen, bedingten und vorübergehenden Manifestationen 'gebildet' wird. Erst dann sind wir in der Lage zu erkennen, daß dieser Körper, dieses 'Ich'/'Selbst', dieses Ego auch einen scheinhaften und vortäuschenden Charakter haben. Wenn solche flüchtigen Eigenschaften des 'Ich' durchschaut und erkannt wurden, dann müssen alle externen Phänomene, die auf dieses 'Ich' wirken, gleichsam scheinhaften und vorübergehenden Charakter besitzen, also nicht 'echt' sein. Wenn dieses nicht 'echt' ist, was gibt es denn noch, was 'Leid' genannt wird? Daher wird einer an dieser Stelle „… So war er augenblicklich von jeglichem Leid entfesselt – restlos befreit …
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Für die Zen-Praktiker genügt es, daß sie die 'Fünf Skandhas' durchleuchten, daß sie gänzlich leer sind, dann wird man „von allem Leid und Festhalten entfesselt und befreit“ werden. Aber wie lange müssen wir so beleuchten, damit wir auch in der Lage sind, einleuchtend zu erkennen, daß die 'Fünf Skandhas' gleichsam leer sind? In dem Satz: „Als der Edle Erhabene Bodhisattva Avalokiteshvara sich in die tiefste  Praxis des Prajnaparamita versenkte, durchleuchtete er …“ ist von der 'tiefsten Versenkung in die Praxis' und der 'Durchleuchtung' die Rede. Somit ist die 'Versenkung' und die 'Durchleuchtung' – die hier gemeint sind – so 'tiefgründig' von der stofflichen bis zur ultra-feinstofflichen Ebene und darüber hinaus, was alles seine 'quantitative' und 'qualitative' Tiefe benötigt ['Prajnaparamita-Praxis'], solange, bis wir in den 'Prajna-Weisheits'-Bereich vorgedrungen sind. Sogleich, wenn alle 'Fünf Skandhas' als 'leer' und 'unbeständig' durchleuchtet sind, werden wir „augenblicklich von jeglichem Leid entfesselt - restlos befreit“ sein.
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Auf dem Weg der Zen-Praxis, bei der wir uns mit der Prajna-Weisheit beschäftigen, beleuchten wir aber oft das Gegenteil: alle 'Fünf Skandhas' sind doch 'echt, existent und real'. Hier ist äußerste Vorsicht geboten wegen dem Satz: 'tiefste Versenkung'. Nicht, weil Buddhas Belehrung hier nicht stimmt, sondern weil wir noch nicht tiefgründig genug in der Versenkung in der Prajna-Weisheit verbracht haben. Die tiefgründige Versenkung hier hat nichts mit zeitlicher Dauer zu tun [Monate oder Jahre]. Die 'tiefgründige Versenkung', die hier gemeint ist, ist nicht die 'Versenkung auf Zeit', bzw. die 'Dauer der Versenkung', sondern die Tiefgründlichkeit der Versenkung in der Prajna-Weisheit. Unabhängig von dem zeitlichen Faktor, können es Monate oder Jahre oder aber auch ein Handumdrehen sein. In dem Moment, sobald das Wesen der 'Fünf Skandhas' [mindestens eines von fünf] gänzlich und einleuchtend als 'leer' und 'unbeständig' betrachtet wird, dann ist das genau 'der Augenblick', ab dem wir „von jeglichem Leid entfesselt, restlos befreit“ sind.
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Das Festhalten an einem falschen Selbst ist die Ursache des Leidens. Sie verblendet die Sicht über unsere eigene Person. Aus diesem Festhalten wird eine narzisstische und egoistische Vorstellung verstärkt, wie die zusätzlichen Bausteine, die unser Leid zu einer Festung vermauern. Mit der Prajna-Weisheit durchschauen wir alle Phänomene, so wie sie sind. So besitzt auch unser eigener Körper/Geist eine vorübergehende, trügerische und scheinhafte Form. Alle sind stets in Wandlung, Veränderung und 'unbeständig'. Folgerichtig ist hier dem Festhalten kein Halt mehr geboten und somit ist die verblendete Sicht über unseren eigenen Körper und Geist, 'Ich' und 'Ego' samt jeglichem Leid zertrümmert.
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Ein konkretes Beispiel: Falls weltliche Menschen uns mit zornigen, provozierenden Beleidigungen beschimpfen, welche direkt auf unseren eigenen Namen/'Ego' gerichtet sind, werden wir leicht mitgerissen und schließlich im Leid verstrickt werden, wenn wir nicht bewußt sind. Aber sobald die Prajna-Weisheit hier zum Einsatz kommt, erkennen wir dank der Prajna-Weisheit, daß dieser Körper-Geist wahrhaftig und letztendlich, so wie sie sind, nur vorübergehende Manifestationen sind – scheinhaft und trügerisch. Somit, statt festzuhalten, lassen wir von einem falschen Selbst los. Dann sind wir an Ort und Stelle „von jeglichem Leid entfesselt, restlos befreit“. Die Dinge so zu betrachten, so wie sie sind, ist eine Grundlage mit der sich ein Zen-Praktiker auf dem 'Mittleren Weg' des Buddhas, tiefgründig auseinandersetzen soll, damit ein Durchbruch zu der Prajna-Weisheit noch stattfinden kann.
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Sariputra!
Form ist nicht anders als Leere, Leere ist nicht anders als Form!
Form ist Leere und Leere ist Form!
Mit Empfindung, Denken, Wandlungen, Bewußtsein verhält es sich ebenso!“.
Ab hier geht Buddha direkt auf die Einzelheiten ein, indem er dem Ehrwürdigen Sariputra sagt: Form-Skandhas sind nicht anders als Leere und Leere ist von den Form-Skandhas nicht verschieden. 'Leere' bedeutet hier weder 'leerer Raum' noch 'Vakuum' oder ein 'Nichts', sondern 'leer von einem Selbst', d.h. die charakteristischen Eigenschaften der Formen sind veränderlich und unbeständig. Daher sind die Formen in sich 'leer'. Form-Skandhas sind die vier materiellen Bestandteile aus dem dieser Körper sich manifestiert und ihre Existenz ist bedingt, veränderlich und unbeständig. Da das Wesen dieses Körpers unbeständig ist, daher sind sie nicht anders als 'leer'. Andersherum: Wenn sie doch erstarrt und beständig sind, dann sind sie schon von der 'Leere' verschieden [anders]. Daher wurde folgerichtig gesagt, daß die Form-Skandhas nicht verschieden von der Unbeständigkeit sind und somit ist die Unbeständigkeit von den Form-Skandhas nicht verschieden.
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Der Tisch ist ein Beispiel für die bedingte Entstehung der Formen, weil er veränderlich und unbeständig ist. Das bedeutet, das, was hier als unbeständig gilt, ist auch nicht verschieden von dem Tisch. Warum? Weil der Tisch nur eine vorübergehende Form ist, er verändert sich durch unzählige in-, unter- und miteinander wirkende Prozesse des Entstehens und Verlöschens, welche alle in sich unbeständig sind. Somit ist die Unbeständigkeit eine wesentliche Eigenschaft des Tisches 'selbst', samt den Veränderungen der Form des Tisches. Daher sagen wir: „Form-Skandhas sind nicht anders als Leere, und Leere ist von den Form-Skandhas nicht verschieden.“


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„Form ist Leere und Leere ist Form!“
Bei dem ersten Absatz ist vom Vergleich zwischen Verschieden oder Nicht-Verschieden die Rede. Ab hier zeigt Buddha direkt und bestätigt, daß Form-Skandhas unbeständig sind und Unbeständigkeit Form-Skandhas ist [Gegenüber 'verschieden' oder 'nicht verschieden' bzw. 'nicht anders als']. Somit besteht dieser Körper aus Formen, den Konstruktionsteilen der Unbeständigkeit. Nicht-beständig ist dieser Körper, denn wenn dieser Körper 'beständig' und 'unveränderlich' wäre, dann stirbt er nicht. Doch der Körper ist dem Entstehen und Verlöschen unterworfen, daher ist sein Wesen unbeständig – er stirbt.
-52-
So, wie dieser Tisch unbeständig ist, ist 'diese Unbeständigkeit' der Tisch. Und nicht etwa, daß außerhalb des Tisches extra eine Unbeständigkeit des Tisches existiert.
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Die meisten der Menschen sind der Ansicht: „Form ist Form.“, „Leere ist Leere.“. Wieso dann: „Form ist Leere.“ und „Leere ist Form.“? Die 'Leere' an dieser Stelle deutet auf die Unbeständigkeit hin, auf Entstehen und Verlöschen, auf die stetigen, gegenseitig bedingten Veränderungen aller Phänomene.
-54-

„Mit Empfindung, Denken, Wandlungen, Bewußtsein verhält es sich ebenso.“


„… verhält es sich ebenso.“ bedeutet hier, daß das Gleiche für die Empfindungs-Skandhas, Denken-Skandhas, Wandlungs-Skandhas und Bewußtseins-Skandhas gilt, daß sie alle gleich 'leer' sind. Empfindungs-Skandhas sind nicht anders als Unbeständigkeit. Unbeständigkeit ist nicht anders als Empfindungs-Skandhas. Empfindungs-Skandhas sind unbeständig. Unbeständigkeit ist die Empfindungs-Skandhas. Für die anderen, wie Denken-Skandhas, Wandlungs-Skandhas, Bewußtseins-Skandhas, gilt gleichermaßen: Sie sind nicht verschieden von der Unbeständigkeit und sind alle unbeständig.

-55-

„Sariputra!

Das Wesen der Leere aller Dharmas ist weder erzeugt noch erloschen, nicht befleckt, nicht rein, weder vermehrt noch verringert.“


„Das Wesen der Leere aller Dharmas“ bedeutet hier die nicht unveränderbaren 
[nicht arretierbaren], unbeständigen 'charakteristischen Eigenschaften' aller Phänomene ['Dharmas'] wie 'Formen', 'Empfindungen', 'Denken', 'Wandlungen' und 'Bewußtsein'.
-56-
„Das Wesen der Leere aller Dharmas …“ wurde in den meisten der noch nicht einheitlichen, deutschen Herz-Sutra-Übersetzungen leider versehentlich und voreilig mit 'Leerheit' oder 'Leere' [„Sunyata“] gleichgesetzt, basierend auf der Herkunft und Bedeutung der Wortgruppe „Sunyata“ innerhalb der verschiedenen alten Textversionen des 'Herz-Sutras' [Anmerkung des Übersetzers].
-57-
Das Wesen, die charakteristischen Eigenschaften 'dieser Unbeständigkeit' ist „… weder erzeugt noch erloschen, nicht befleckt, nicht rein, weder vermehrt noch verringert.“. Warum? Weil alle nicht fest und nicht beständig sind. Wenn etwas 'erzeugt' wird bzw. 'etwas entsteht', ebenso 'erlischt' [etwas 'verloren gegangen' ist], bedeutet das, daß so etwas ein in sich 'festes', 'beständiges' Phänomen ist, denn wenn nur „entweder/oder“ gilt – also wenn es nur 'Entstehen' geben würde –, dann könnte es 'Erlöschen' nicht geben. Ebenso: Wenn es nur 'Erlöschen' geben würde, wie kann es 'Entstehen' noch geben? Daher wurde gesagt: Das Wesen 'dieser Unbeständigkeit' ['Leere'] „… ist weder erzeugt noch erloschen.“. Ebenso “nicht befleckt, nicht rein“, denn wenn etwas nur und für immer 'beschmutzt', 'befleckt' bleiben würde, kann es nie wieder in 'rein', 'sauber' gewandelt werden! Ebenso etwas, was nur und für immer 'rein' bleiben würde, könnte auch niemals, nie wieder in 'beschmutzt', 'befleckt' gewandelt werden! Deshalb wurde gesagt: Alle 'Formen' [alles, was eine Form besitzt] sind nicht beständig, “nicht befleckt, nicht rein“. Ebenso sind die charakteristischen Eigenschaften aller Phänomene unbeständig. „Das Wesen der Leere aller Dharmas …“ ist weder „vermehrt“ noch „verringert“.
-58-
Zusammengefasst ist die Unbeständigkeit sämtlicher Manifestationen „… weder erzeugt noch erloschen, nicht befleckt, nicht rein, weder vermehrt noch verringert.“. Diese 'nicht fest gebliebenen Eigenschaften' sind keiner von dem Rest der dualistischen Eigenschaften gleich. Diese Unbeständigkeit als Eigenschaft ist keine von den 'dualistischen Formen' und übertrifft sogar alle gegenseitig bedingten 'Formen'. Wieso? Denn: Wenn 'etwas' als 'etwas' oder 'jenes' gilt und unveränderbar bleibt, dann ist dieses 'etwas' oder 'jenes' unveränderlich und beständig. Aber in der Realität ist alles unbeständig. Dieses 'etwas' und 'jenes' sind stets in Wandlung, sie sind nicht unveränderlich, daher kann 'Entstehung' bald 'Erlöschen' sein, 'beschmutzt' wird 'rein', 'vermehren' wird 'verringern' oder wiederum kann 'Erlöschen' zur 'Entstehung', usw., usf. umgewandelt werden.
-59-
Die Eigenschaften aller Manifestationen sind durch Ursachen und Wirkungen, die in gegenseitigen Beziehungen stehen, bedingt. Sie verändern sich ständig, sind stets in Bewegung, Verwandlungen und daher ist jede in sich unbeständig. Weil sie unbeständig sind, können wir nicht erzwingen und bestimmen, daß 'etwas' 'jenes' wird, bzw. 'etwas' eine 'feste Eigenschaft' zuordnen, ohne anerkennen zu müssen, daß solche Phänomene sich in sich stets verändern, kurz gesagt: Alle Definitionen sind relativ.
-60-
Z.B. Bei einem kristallklaren, reinen Wasserglas: Wenn wir jetzt ein bisschen Schlamm hinzufügen, würde das Wasser sofort trüb werden. Sehen wir jetzt, daß die reinen Eigenschaften des Wassers nicht fest als 'rein' bestimmbar sind? Diese 'reinen' Eigenschaften sind nicht unveränderlich, sondern durch die Ursache bedingt. Wenn die Ursache sich verändert, ändert sich die Wirkung: Das Wasser ist jetzt getrübt. Wenn diese 'reine' Eigenschaft unveränderlich wäre, hätte sie nie beschmutzt werden können. Ebenso verhält es sich mit dem 'beschmutzt' oder 'trüb' sein, wenn sich diese nicht verändern ließen, dann würden sie nie wieder 'sauber' und 'rein' werden können. Doch das Wasser ist wieder glasklar, nachdem die Schmutzpartikel auf den Boden sinken. Daher wissen wir, daß das Wasser Ursache und Wirkung unterworfen ist. Das ist der Sinn von 'Unbeständigkeit' aller Manifestationen, sie sind weder 'das' noch 'jenes', jedoch sind sie so wie sie sind und ihre Formen und Erscheinungen sind durch Ursache und Wirkung bedingt.
-61-

Daher gibt es in der Leere keine Form, Empfindung, kein Denken, Wandlungen und Bewußtsein, auch keine Augen, Ohren, Nasen, Zungen, Körper und keine Gedanken.
Keine Formen, Töne, Düfte, Geschmäcker, kein Tasten – gar keine Dharmas. Auch keine Sphäre des Sehens bis hin zu keiner Sphäre des Bewußtseins. 


An dieser Stelle hat Buddha uns belehrt, daß es diese 'unbestimmten Eigenschaften der Leere' 
['in der Leere'] weder für die 'Fünf-Skandhas' noch für die sechs Sinnesorgane, außerdem weder für die sechs äußerlichen Reize ['staubige Beeinflussungen'] noch für die achtzehn daraus entstandenen, interaktiven Verbindungen gibt.
-62-
Z.B.: Augen + Licht + Formen/Apfel + Denken/Bewußtsein = 'Apfel' ['Dharmas']. Wenn diese 'Leere' als 'etwas', als 'Sein' betrachtet wird, dann ist es eben ein 'Sein'-Zustand und ist damit 'beständig'. Aber weil 'diese Unbeständigkeit' keinem von den oben Genannten angehört, daher ist sie der Ursache nach bedingt und unbeständig. In der Leere gibt es keine Form, Empfindung, Denken … aber die Empfindung, Form, Denken, Wandlung und Bewußtsein … sind gegeben, nur gibt es keines von ihnen, das in der 'Leere' 'existiert'. Zur Verdeutlichung: 'Kein' bedeutet hier, es sind keine von denen gemeint und nicht etwa, daß die, die aufgezählt sind, nicht existieren würden. Das Wort 'Kein' basiert auf der Unbestimmtheit, Unbeständigkeit der 'Leere'.
-63-
Im dem Fall, wo die Schülerschar an äußerlichen Formen – wie Körper [leiblichoder an imaginären Erscheinungen festhält –, hatte der Buddha die Lehre über das Wesen der vier materiellen Gruppen [Erde, Wasser, Wind und Feuer] gelehrt, um dieses Festhalten als Hindernis zu offenbaren.
-64-
Im dem Fall, wo die Schülerschar mehr an den psycho-mentalen, geistigen Aspekten festhält, hatte der Buddha die Lehre über die 'Fünf Skandhas' eingesetzt, um dieses Festhalten als Hindernis zu offenbaren.
-65-
Im Fall, wo die Schülerschar mehr an Sinnesorganen und den äußerlichen Reizen festhält, setzte der Buddha hierfür 'achtzehn Dharmas' entgegen, um dieses Festhalten zu zerschmettern. Daher ergibt sich die Aussage „… gar keine Dharmas. Auch keine Sphäre des Sehens bis hin zu keiner Sphäre des Bewußtseins.“
-66-
Zusammengefasst: Diese Unbeständigkeit, Unbestimmbarkeit ['Leere'] sind nicht sechs Sinnesorgane, sind nicht zwölf interaktive Verbindungen [Augen-Formen, Ohren-Töne, Nasen-Duft, Zungen-Geschmack, Körper-Tasten, Denken-Bewußtsein/'Dharma']. Auch nicht die achtzehn Dharmas [bestehend aus: sechs subjektiven Sinnesorganen und sechs objektiven Reizen und sechs daraus entstandenen Arten von Sinnesbewusstsein, wie: Seh-Bewusstsein, Hör-Bewusstsein, Riech-Bewusstsein, Geschmacks-Bewusstsein, Körper-Bewusstsein, Denk-Bewusstsein]. Somit ist diese Unbeständigkeit, diese Unbestimmbarkeit mit keinem der ganzen dualistischen, bedingten Phänomenen – auch als 'weltliche Dharma' bezeichnet – identifizierbar.


-67-

„Keine Unwissenheit, aber auch kein Ende der Unwissenheit.

Weiterhin kein Altern, keinen Tod, aber auch kein Ende des Alterns und Todes. Kein Leid, keine Überwindung und Erlöschung des Leides, keinen Weg, keine Prajna-Weisheit, auch gar keine Verwirklichung sowie Vervollkommnung.“
-68-
Ab hier wird ein Weg darüber hinaus – aus den bedingten Phänomenen, also 'weltlichen Dharmas' –, gezeigt. Bis hierher wurden die zwölf Zusammenhänge der Ursache und Wirkung behandelt. Diese Lehre gehört zu Buddhas frühbuddhistischer Lehrperiode. Es fängt mit der Unwissenheit, Wandlung, Bewußtsein, Begriffsbildung durch Formen, usw., usf. an bis hin zu Altern und Sterben. Dies ist der Kreislauf in Richtung der Entstehung und des Existierens.
-69-

Wenn die Unwissenheit 'erlischt', 'erlischt' die Wandlung. Sobald die Wandlung 'erlischt', 'erlischt' das Bewußtsein … bis Altern und Tod auch 'erlöschen'. Dies ist der Kreislauf in Richtung der Vollendung zur Erlöschung.


-70-

„Kein Leid, keine Überwindung und Erlöschung des Leides, keinen Weg, …“


Das sind nicht die Dharma der 'Vier edlen Wahrheiten'. Die oben genannte 'Unbestimmbarkeit' ist weder Leid, Überwindung des Leides, Erlöschung des Leides, noch ein Weg aus dem Leid. Die Dharma über die 'Vier edlen Wahrheiten' gehören zu der frühbuddhistischen Lehre. Diese sind vier unwiderlegbare Wahrheiten, jedoch 'fest und bestimmt'. Aber hier lautet die Belehrung: „Kein Leid, keine Überwindung und Erlöschung des Leides, keinen Weg, …“ dies ist ein Vorgehen Buddhas, um das Festhalten an einer bestimmten, 'gefestigten Wahrheit' der Theravadins ['Hinayana'] aufzubrechen.
-71-
Das Verhängnis der Theravadins ist das krampfhafte und erstarrte Festhalten an Buddhas-Lehrrede und der Ansicht, daß alles 'gefestigte Wahrheit' sei. Daher zerreißt Buddha an dieser Stelle des Sutras endgültig das Festhalten an den 'Zwölf Zusammenhängen der Ursache und Wirkung', samt den 'Vier edlen Wahrheiten'. Warum? Weil diese beiden auch nur Erscheinungen der Materie sind, nicht 'echt', stets in Wandlung und unbeständig.
-72-

„… keine Prajna-Weisheit, auch gar keine Verwirklichung sowie Vervollkommnung.“
An dieser Stelle belehrt Buddha über die Sichtweise und das Praxisfeld des Bodhisattvas. Gewöhnlicher Weise benutzen die Bodhisattvas sechs Paramitas, um Lebewesen zu 'befreien'. Von diesen sechs Paramitas ist jedoch die Prajnaparamita die Grundlage von allen Weiteren. Wenn Bodhisattvas ihre sechs Paramitas einsetzen, um Lebewesen zu 'befreien', werden sie zehn Früchte ihrer Praxis als Ergebnis erreichen, von der ersten bis zur zehnten Ebene des Bodhisattvas. Hierfür gibt es also immerhin eine Prajna-Weisheit zu erreichen und auch eine Verwirklichung der Prajna-Weisheit. Aber hier ist die Wahrheit in der Tat, so wie Buddha im Sutra deutlich ausdrückte, daß es „… gar keine Prajna-Weisheit gibt und somit gar keine Verwirklichung.“ jener Prajna-Weisheit.
-73-
Denn eine 'Verwirklichung' [Es gibt hier noch 'etwas' zu verwirklichen?] ist ein dualistisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Das Objekt der Verwirklichung – die Prajna-Weisheit – ist aber in sich vollkommen, 'selbstlos und leer' – Ebenso ist aber auch das 'Subjekt', das 'absichtsvolle Selbst', 'etwas' zu verwirklichen suchend, in sich 'selbstlos und leer'. Daher gibt es hier weder 'etwas' zu verwirklichen noch zu vervollkommnen.
-74-
Deshalb lehrte Buddha an dieser Stelle ausdrücklich, daß auch die wahre, letztendliche Wahrheit sämtlicher weltlicher Dharma ['Phänomene'] unbeständig ist.
-75-
Ebenso lehrte deshalb Buddha an dieser Stelle ausdrücklich, daß 'sämtliche weltlichen Dharma' 'gar keine weltlichen Dharma' sind. 'Diese Unbeständigkeit' gehört zu keinem der sämtlichen weltlichen Phänomenen, die bedingt und dualistisch sind.
-76-
Denn, wäre 'diese Unbeständigkeit' als 'etwas' definiert, dann wäre sie doch erstarrt, als 'beständig' in diesem 'Etwas' [also 'etwas Beständiges']. Daher wurde gesagt: 'Diese Unbeständigkeit' ist keine von den sämtlichen weltlichen Phänomenen, sie ist jedoch in allen der sämtlichen weltlichen Phänomenen vorhanden. Sämtliche dualistischen weltlichen Phänomene sind nicht verschieden von dieser Unbeständigkeit, jedoch ist sie an sich und in sich unbeständig. Das ist die tiefgründigste Bedeutung des Geists der Prajna-Weisheit.
-77-
Gewöhnlicher Weise greift man, um die weltlichen Phänomene zu beschreiben, nach einem gewöhnlichen 'Werkzeug': die Begriffsgründung und Begriffsfindung der weltlichen Phänomene. Und man erstarrt dabei, indem man jedes Phänomen mit seinem eigenen Begriff und Bezeichnung versieht. Nach dieser dualistischen Sicht der weltlichen Menschen – ehrlich gesagt –, gibt es noch etwas, was sie nicht als 'echt' betrachten und nicht daran festgehalten? Wurde etwas als 'Recht' verkündet, klammern wir gleich daran fest, daß dieses und jenes 'Recht' und auch 'echt' sei. Wurde etwas als 'unrecht' verkündet, klammern wir gleich daran fest, daß dieses und jenes 'Unrecht' und ebenfalls 'echt' sei.
-78-
An 'gut', 'böse', 'lang', 'kurz', etc. und dergleichen derartiger Verkündungen klammern wir ebenso fest [an dem Begrifflichen]. Aber stellen wir uns einmal die Frage: Sind allesamt der oben genannten begrifflichen Verkündungen auch 'echt'? Auch fest und beständig? Wenn etwas als 'Rechtes' gilt, gilt es auch für immer beständig als 'Rechtes'? Genauso: Wenn etwas als 'Unrechtes' gilt, gilt das auch für immer beständig als 'Unrechtes'?
-79-
In der dualistischen Sicht des weltlichen ist es recht häufig, daß der Eine meint: „So ist recht.“, der Andere wiederum: „Das ist unrecht.“ und jeder will Recht behalten. Und alle Menschen, wenn sie daran glauben, sind hin- und hergerissen zwischen 'recht' und 'unrecht' und wer 'recht' hat. Dieses 'Recht' und 'Unrecht' ist selbstverständlich situativ, Zeit-Raum-bedingt und dualistisch. Und wer sind all diejenigen, die diese 'Maßstäbe' ins Leben gerufen haben? Selbstverständlich, haben die 'mächtigen' Vorgänger einmal damit angefangen und die Nachkommenden ahmen alles nach, sie klammern daran fest, daß alles, was sie als 'Rechtes' betrachten, auch beständig als 'rechter Maßstab' gilt.
-80-
Ein Beispiel aus der 'maßstäblichen Lehre Konfuzius‘: „Eine Frau darf nicht über die eigenen Familienwände hinaus gehen.“ Zu jener Zeit galt diese Lehre als 'Maßstab' der Gesellschaft und alle Menschen erkannten diese 'rechte' maßstäbliche Rechtsverordnung als 'Maßstab' an und befolgten diese ohne Ausnahme. Heutzutage sind Frauen und Männer 'gleichberechtigt', sie haben das gleiche 'Wahlrecht' wie die Männer usw., usf.
-81-
Ist diese sogenannte 'Gleichberechtigung' somit 'recht' oder 'unrecht'? Sind die heutigen 'rechtlichen Maßstäbe' und die damaligen 'rechten Maßstäbe' dieselben oder verschieden? Wenn das 'Recht' des Damaligen beständig 'recht' und 'echt' wäre, dann ist alles 'Recht' des Heutigen 'unrecht'. Wiederum stimmt alles, was heute als 'Recht' und 'echt' gilt, nicht mit dem 'Recht' und 'echt' des Damaligen  überein. Wer hat hier 'Recht'? Was ist hier 'recht'?
-82-
Anhand des obigen Beispiels können wir erkennen, daß etwas, was als 'Rechtes', als 'Richtiges' gilt, in sich nicht unveränderlich ist, sondern durch eine Mehrheit der vergangenen, einflussreichen Menschengruppen, die jemals diese Maßstäbe aufgestellt haben, bestimmt wurde. Und sie sind situativ-, Zeit- und Raum-bedingt. Für die damalige Zeit galten solche Vorschriften und 'rechte' Richtlinien als maßgeblich, aber auf keinen Fall für heute. Diese 'rechte' Sicht gilt somit nicht ewig. Es werden bestimmt Krieg und Streiterei entstehen, wenn jemand unseren 'rechten' Maßstäben widerspricht, wenn wir an solchen 'rechten' Maßstäben festhalten würden.
-83-
Tiefgründig betrachtet sind alle 'rechten' Phänomene nicht unveränderlich, somit sind sie nicht 'echt'. Anhand der 'rechten' Dinge wurde dies bereits geschildert. Das Gleiche wiederholt sich mit den 'unrechten' Dingen.
-84-
Kann man 'gut' und 'böse' fest-arretieren? Ein Denkbeispiel: Eines Tages war ich auf dem ZaZen-Sitzkissen in meiner ZaZen-Hütte und betrachtete folgende Szene: Ein Gecko, der sich ganz langsam auf einem Geäst bewegt, wird plötzlich von einem Greifvogel angegriffen, der den Gecko als seine Mahlzeit betrachtet. Um zu überleben, flüchtet der Gecko und versucht sich im Geäst rundum zu verstecken. Der Greifvogel jagt hinterher. Wie soll ich mich jetzt verhalten? Soll ich den Greifvogel wegjagen, um den Gecko zu retten? Ist meine Tat 'gut' oder 'böse'? Oberflächlich betrachtet ist es offensichtlich eine 'gute' Sache, wenn ich das Leben eines kleinen Lebewesens vor einem größeren Lebewesen rette. Das ist doch eine 'gute' Tat – nicht wahr?
-85-
Aber tiefgründig betrachtet: Ist diese 'gute' Tat wirklich eine 'gute' Tat? Denn von der Seite des Geckos betrachtet, ist es eine 'gute' Sache. Aber wie wäre es aus der Perspektive des Greifvogels? Der Greifvogel ist hungrig, auf der Suche nach dem Gecko und hatte auch einen gefunden. Somit greift er gleich zu, wurde aber vom Menschen verhindert, nun wird er bestimmt enttäuscht und zornig werden. Einen Zorn anzustiften, ist wiederum keine „gute“ Sache. Somit ist die „gute“ Tat, daß ich den Jagdvogel vertrieben habe, nur „gut“ für den Gecko, jedoch „nicht gut“ für den Greifvogel. Sind „gut“ und „böse“ somit fest und unveränderbar?
-86-
Noch tiefer betrachtet: Meine Tat ist nicht nur 'böse' für den Greifvogel, sondern vielmehr für die anderen Opfer, die nun als seine Futterbestände vorgesehen sind. Denn der Greifvogel wird nie freiwillig hungrig bleiben. Selbstverständlich sucht er neues Futter, um seinen Hunger zu stillen. Und der nächste Gecko ist das Opfer meiner 'guten' Tat, weil statt, daß der Vorgänger-Gecko stirbt, muss er jetzt an dieser Stelle dafür sterben. Wäre sich der Gecko dieser Tatsache bewußt, könnte er Hass auf mich haben.
-87-
Anhand des obigen Denkbeispiels stellt sich die Frage: Wie sollen wir 'gut' und 'böse' definieren? Sind 'gut' und 'böse' beständig und unveränderlich? Eine 'gute' Sache – von einer Facette her betrachtet, ist sie 'gut', aus einem anderen Betrachtungswinkel schon nicht mehr, denn die Maßstäbe des Dualistischen, des Relativen sind eben bedingt und unbeständig. Der Geist plant etwas 'Gutes', jedoch unbewusst, daß dem auch etwas 'Böses' innewohnen könnte. 'Gut' und 'böse' sind unbeständig. Wenn wir aber daran festhalten, daß sie beständig sind, dann irren wir uns gewaltig.
-88-
Trotz alledem, den 'rechten' Maßstäben des Dualistischen, des Relativen nach ist es unbestritten, daß die 'gute' Tat für den 'Täter' und für die anderen gemeinhin als 'gute' Tat gilt. Eine Tat, die Nachteile auf den 'Täter' zieht, jedoch zum Vorteil für viele Andere ist, gilt allgemein auch als 'gute' Tat. Ebenso gilt eine Tat, die Vorteile nur für den 'Täter' bringt, jedoch den Anderen schadet, auch allgemein als 'böse'.
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Zurück zu dem Beispiel mit dem Glas Wasser: Ist die Eigenschaft des Wassers beständig? Ist es rein oder trüb? Wenn dem reinen Glas Wasser Schlamm zugefügt würde, würde es sofort trüb werden. Ebenso, wenn das getrübte Glas Wasser auf lange Zeit stehen bleibt, sinkt der Schmutz nach unten, wenn es sogar gefiltert und in ein neues Gefäß umgefüllt wird, ist das Wasser wieder rein. Das Wasser ist ständig in Bewegung, bedingt und unbeständig. Wenn wir aber an etwas festhalten, das als 'beständig' gilt, dann irren wir uns gewaltig.
-90-
Jetzt folgen Beispiele über 'Kürze' und 'Länge': Ein 1 Meter langer Stock neben einem 50 Zentimeter kürzeren – da sehen wir deutlich, welcher länger als der andere ist, d.h. der Stock von 1 Meter Länge ist 'lang' und länger als der mit 50 Zentimetern Länge. Aber sobald der 1 Meter lange Stock neben dem 2 Meter langen liegen würde, dann ist er wieder 'kurz', kürzer als der 2 Meter lange. Somit sind auch 'kurz' und 'lang' nur relativ und nicht beständig.
-91-
Mit der Schönheit und Hässlichkeit verhält es sich ebenso: Eine 'durchschnittliche' Ware steht neben einer 'schönen' Ware, sie wird als 'nicht schön' betrachtet. Aber falls diese 'durchschnittliche' Ware neben einer noch 'schlechteren' stehen würde, würde sie wieder als 'schöne' Ware angesehen. Aus 'schön' wurde auf einmal 'nicht mehr schön', aus 'nicht schön' wieder 'schön'. Alle sind bedingt. Eine beständige 'Schönheit' und 'Nicht-Schönheit' existiert nicht. Wenn aber jemand daran festklammert, irrt er sich gewaltig.
-92-
Dies gilt ebenso für alle anderen weltlichen Phänomene: Sie sind allesamt relativ, bedingt und unbeständig. Somit ist es rechte Betrachtung, alle Dharma so zu betrachten, 'wie sie sind'. Andernfalls ist es keine rechte Betrachtung. Und das Leid hat hier seinen Anfang.
-93-
Das Prajnaparamita-Sutra zu erlernen, bedeutet auch gleich, von allem Festhalten loszulassen, alle Hindernisse des Festhaltens zu zerstören. Wenn wir nun wissen, daß alles unbeständig ist, woran klammern wir noch fest? Daher wurde gesagt: Alle Phänomene sind nicht das, was sie sind. Das bedeutet aber nicht, daß sie nicht existieren. Jedoch sind sie, wie sie sind – alles, was je entstanden ist, ist in sich unbeständig. 'Diese Unbeständigkeit' ist nicht nur ein 'nicht-das-und-nicht-jenes', sondern sie ist keine von alledem. Jedoch ist, je nach Ursache und Bedingung, alles daraus entstanden.
-94-
Mit dem Geist der Prajnaparamita lässt sich für uns tiefgründig erkennen, daß alle dualistischen Phänomene im Universum scheinhaft und 'unecht' sind. Diese charakteristische Eigenschaft, welche hier als 'nicht echt' geschildert wurde, ist auch die charakteristische Eigenschaft aller Phänomene: Daß sie bedingt und unbeständig sind. Weil alle Phänomene unbeständig sind, verändern sie sich stets den Bedingungen nach. Weil sie sich den Bedingungen nach verändern lassen, sind sie nicht für immer an einem Ort fixiert, nicht für immer in einem bestimmten Zustand, eben nicht für immer in derselben Situation. Sie sind bedingt, daher stets in Wandlung und Veränderungen unterworfen.
-95-
Hier an dieser Stelle wurde bestätigt, daß die tiefgründige Sicht, daß alle Phänomene Zeit-/Raum- und Situations-bedingt und unbeständig sind – einleuchtend, wie die rechte, wahre Einsicht ist und das rechte Wissen, dank der Prajnaparamita-Weisheit. Wenn wir die Phänomene nur einseitig betrachten und daran noch festhalten, das ist die Irr-Sicht. Die Sicht durch einseitige Betrachtung ist die Sicht der Verblendung, für denjenigen ist der 'Weg' direkt unter seinen Füßen, er sieht ihn trotzdem nicht. Andernfalls, mit der wahrhaftigen Sicht, mit der Prajnaparamita-Weisheit alle Phänomene betrachtend, ist ihm 'Der Weg' einleuchtend.
-96-
Wir hören folgende Zen-Legende:
Zen-Meister Đạo Ngô und der Schüler Tiệm Nguyên besuchen eine Trauerzeremonie eines frisch Verstorbenen. Der Schüler klopft auf den Sarg und fragte den Meister: „Ist dies hier Leben oder Sterben?“ Der Meister antwortete: „'Als Leben' sage ich nicht, 'als Sterben' sage ich auch nicht.“ Der Schüler fragte ungeduldig zurück: „Wieso sagst Du nichts?“ Darauf erwidert der Meister nur noch: „Sage ich nicht! Sage ich nicht!“
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Auf dem Rückweg wurde der Schüler langsam zornig und fragte wiederholt: „Du musst mir das sagen. Wenn nicht, dann schlage ich dich.“ Der Meister antwortete: „Nah, dann schlage eben, bitte schön. Sage ich trotzdem nicht.“ Der Schüler schlägt den Meister mit einem außerordentlichen Schlag. Beim Tempel angekommen, sagte der Meister ihm in die Ohren: „Du sollst schweigsam diesen Ort verlassen, bevor die Zen-Anwärter-Meister die Sache erfahren, dann hast du keine Ruhe.“ Der Schüler verabschiedete sich von dem Meister und entfernte sich. Danach suchte er eine weit-entfernte Hütte für die Zen-Praxis und ließ sich dort nieder.
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Die brennende Frage ließ nicht nach: „Wieso nicht Leben, wieso nicht Sterben? Wieso treffen beide nicht zu und wird auch nicht gesagt?“ Eine lange Zeit verging, bis er eines Nachts von der Nachbarschaft den Gesang des 'Buddha-Tor-Sutras' hörte und an der Stelle: „Wenn der Eine den Bikhui, Bikhuni, Laie oder Laiin … Körper benötigt, um Lebewesen zu befreien, erscheint Dieser eben als Bikhui, Bikhuni, Laie, Laiin, um für diese Dharma zu verkünden …“ erblickte er plötzlich seine Erleuchtung.
-99-
Wieso wurde der Schüler an dieser Stelle erleuchtet? Wieso hatte der Meister weder 'Leben' noch 'Sterben' gesagt? In der dualistischen Welt sind wir gewohnt, mit dem Dualistischen zu leben, daher halten wir alles für echt: Entweder 'leben oder sterben'. Aber im Geist der Prajnaparamita sind Leben und Sterben unbeständig, denn, wie bereits erwähnt, wenn es nur 'Leben' gäbe, dann hat ein 'Sterben' keinen Platz, eben wenn es nur 'Sterben' gäbe, dann wäre das 'Leben' nicht möglich.
-100-
Aber das Rad des Kreislaufs des Lebens und Sterbens [Wiedergeboren-Sterben] kreist unaufhörlich: Sterben/Leben, Leben/Sterben sind unbeständig. Wenn der Meister nur 'Leben' oder nur 'Sterben' gesagt hätte, dann wäre seine Aussage einseitig und dualistisch. Daher nimmt der Meister die Faust des Schülers in Kauf, lässt sich vom Schüler schlagen und sagt dazu nichts. Später äußerte der Schüler dazu: „Wie gigantisch mein Meister ist, der wegen mir schweigsam das Leid verschluckt, doch einen beleuchteten Weg freigegeben hat, damit ich heute darauf mit eigenen Füßen gehen darf.“
-101-
Das ist die unvorstellbare Würde eines Meisters, der sich 'opfert', um den Erleuchtungs-Weg des Schülers zu beleuchten. Aber was erleuchtete den Schüler überhaupt? Das Hören der Verse des Sutras: „Wenn der Eine den Bikhui, Bikhuni, Laie oder Laiin … Körper benötigt, um Lebewesen zu helfen, erscheint Dieser eben als Bikhui, Bikhuni, Laie, Laiin, um für diese Dharma zu verkünden …“. Hier die kurze Erläuterung: Alles ist durch Ursache und Bedingung bedingt, um sich zu manifestieren und nichts ist vorbestimmt und beständig. Und 'das' ist, was den Schüler Tiệm Nguyên 'erleuchtet' hat. Er hat den Weg erblickt.
-102-
In diesem Sinne belehrte uns der Sechste Zen-Patriarch Huệ Năng [1] über ein didaktisches Vorgehen, wie im "Dharma-Schätze-Sutra" [das "Sutra des Sechsten Patriarchen“] beschrieben, um die dualistische Sichtweise in die Enge zu treiben. Er belehrte die Schüler folgendermaßen: „Wenn jemand über die 'Finsternis' nachfragt, antworte Diesem mit dem 'Licht'. Alle Fragen, um etwas über den 'Inhalt des Seins' zu erfahren, sind mit dem 'Nicht-Sein' zu beantworten.“ Mögliche, konkrete Beispiele:

Frage: „Wie sieht die Finsternis aus?“

Die Antwort lautet: „Das Licht existiert nicht.“

Frage: „Was zählt denn alles zu dem Sein?“

Die Antwort lautet: „Ein Nicht-Sein existiert nicht.“
-103-
Mit derartigen Belehrungen wollte der Sechste Patriarch uns zeigen, daß das Finsternis-Licht-Phänomen ein gegenseitig bedingtes Erscheinungs-Phänomen ist, es in sich instabil, scheinhaft, unecht und unbeständig ist, kurz gesagt: Bedingte Erscheinungen bzw. bedingte Manifestationen. Wenn man versuchen würde, die Eigenschaften des Lichtes bzw. der Finsternis als etwas Bestimmtes, etwas Beständiges zu definieren und dies entsprechend zu erläutern, dann besteht an dieser Stelle eine mögliche Gefahr, daß die Fragenden an dem 'Licht', der 'Finsternis' dieses und jenes – als beständige Phänomene – zu sehr festhalten und so ein Festhalten entsteht, welches zum Verhängnis führen kann.
-104-
Daher, um ein vorprogrammiertes Festhalten von vorneherein zu vermeiden, wurde als 'Vorsorge' ein Schritt voraus gedacht und 'lieber' bzw. 'bevorzugt' die Antwort „Weder Licht noch Finsternis“ ausgewählt. Und zwar mit der vorbedachten Absicht, für den Fall, daß die Fragenden nicht starr an den dualistischen Sichtweisen festhalten, daß für sie doch noch ein Weg frei ist, darauf zu kommen, von dualistischen Begriffen loszulassen und ihnen die Einsicht intuitiv und empirisch zu ermöglichen, daß das Licht-und-Finsternis-Phänome ein bedingtes Erscheinungs-Phänom bzw. bedingte Manifestation ist und somit in sich unbeständig.
-105-
Mit dem 'Sein' und 'Nicht-Sein' wiederholen sich Frage und Antwort in diesem Sinne nach dem 'ähnlichen Muster'.

Der Grund hierfür zusammengefasst: Alles, was als 'Sein' zählt, kann, dank der anderen dualistischen Seite des 'Nicht-Sein', überhaupt als 'Sein' definiert werden.“ Sie sind 'scheinhaft' und 'nicht echt'. Wenn jemand, alle Phänomene als 'scheinhaft' und 'nicht echt' erkennt, dann hat derjenige den 'Rechten Weg' erblickt. An dieser Stelle hatte der Sechste Patriarch den Dialog [Frage/Antwort] über die bedingten, relativen Erscheinungen und Phänomene im Geist der Prajna-Weisheit meisterlich und auf höchstem Niveau angewendet.
-106-

Im 'internen Kreis des Zen' greifen die Zen-Meister bei dualistischen Fragen, die ein eindeutiges, einseitiges Festhalten aufweisen, welches den Fragenden ganz und gar unbewusst ist, sehr oft auf einen nonverbalen, didaktischen Trick zurück, indem sie einen Finger hochheben und den Fragenden damit darauf hinweisen, daß er mit seinen Fragen noch zu sehr an den beiden Enden der dualistischen Einsichten ['Sein' und 'Nicht-Sein'] festklammert und somit von der Mitte des Mittleren Weges weit entfernt ist, geschweige denn ihn schon erblickt hat.

-107-
[An dieser Stelle weist der Übersetzer alle leichtsinnigen Zeigefinger-Nachahmer bezüglich Nachahmungen aller Art ausdrücklich auf folgendes hin:

Bodhidharmas Zen-Hütte
hat weder Dach, Boden noch Wände - 
durch deren Spalten oder Schlüsselloch 
Maras, Himmelswesen oder Außenstehende 
vergeblich versucht haben,
einmal hineinschielen zu können.“ ] 

-108-
Für jemand, der mit der Prajna-Weisheit alle Phänomene als unbeständige, bedingte Erscheinungen betrachtet, ist der 'Eingang des Zen' offen. Wir nennen es das 'Tor ohne Tor', mit anderen Worten: Das 'Zen-Tor' ist das 'Leerheitstor' [Dharma-Adharma]. Sämtliche Phänomene im Universum unterliegen stetigen Wandlungen und Veränderungen, bedingt durch die gegenseitigen Ursachen und Wirkungen. Sie verwandeln ihre Formen und Energien, von einer zur anderen, spektakulär oder unauffällig, das Ganze ist in sich unbeständig, scheinbar chaotisch, tatsächlich jedoch äußerst 'ordnungsgemäß', scheinbar 'absichtsvoll', jedoch jede in sich selbstlos. Die Phänomene 'so zu sehen' wird als der Weisheitsblick der Prajnaparamita bezeichnet, also alle Dinge wahrhaftig 'so zu betrachten', so wie sie sind, nicht zu verzerren.
-109-

Zwischen dem heutigen 'Stand des Wissens' und dem 'Rechten Wissen', bis zur 'Rechten Sicht' des Prajnaparamita-Herz-Sutra über die 'Unbeständigkeit aller Phänomene' liegen noch viele Hindernisse. Bis zum 'anderen Ufer hinüber' liegt noch die ganze, flutartige Strömung dazwischen.
-110-

Zumindest stimmt der 'Stand des Wissens' der Prajnaparamita-Herz-Sutra über die 'Unbeständigkeit aller Phänomene' auch mit der 'Unbeständigkeit aller Phänomene' des 'Stand des Wissens' der heutigen, der sogenannten 'modernen Wissenschaft' überein. Diese beiden sind jedoch nicht 'gleich', denn der 'Stand des Wissens' ist nicht gleich dem 'Stand des Rechten Wissens' und der 'Rechten Sicht', geschweige denn „… die Unübertreffliche Rechte-Bodhi des Rechten-Rang.“
-111-
Die 'Dharma des Relativen' sind somit unbeständig, aber was ist mit dem 'Dharma des Absoluten' – ist dies beständig? Eines ist bekannt, daß Buddha-Dharma wie Rezepte und Arznei sind, die der Buddha, je nach Krankheit der Lebewesen, verschreibt. Je nach Art ihrer Krankheit stellte Buddha dafür die passenden Rezepte und Arzneien zusammen. Daher stehen Arznei und Krankheit in einem gegenseitig relativ bedingten Verhältnis – wie können sie letztendlich als 'echt' betrachtet werden? Lebewesen, die an solchen Buddha-Dharma festklammern, weil sie diese für 'echt' halten, auch sie irren sich.
-112-
Daher haben die folgenden Belehrungen Buddhas aus dem Sutra: „Keine Unwissenheit, aber auch kein Ende der Unwissenheit. Weiterhin kein Altern, keinen Tod, aber auch kein Ende des Alterns und Todes. Kein Leid, keine Überwindung und Erlöschung des Leides, keinen Weg, keine Prajna-Weisheit, auch gar keine Verwirklichung sowie Vervollkommnung.“ einen vordergründigen Zweck und Bedeutung: das hindernisvolle Festhalten aller Hinaya bzw. Theravadin an einem 'realen' Buddha-Dharma unmissverständlich und ein für allemal abzuschaffen. Denn in der Realität halten sie aus Tradition und verschiedenen historischen Gründen an den 'Vier Edlen Wahrheiten' und an den 'Zwölf Zusammenhängen der Ursache und Wirkung' [2] zu sehr fest, als ob diese Buddha-Dharma 'reale', 'letztendliche' und 'wahrhaftige' Dharma seien. Wegen der Art und Verschiedenheit der Krankheit der Lebewesen, stellt Buddha auch verschiedene Rezepturen und Medikamente zusammen. Und wenn sie einmal wirklich von der Krankheit befreit sind, sollten die Medikamente auch wieder abgesetzt werden.
-113-
Der Buddha hatte verschiedene Lehren, unter anderem die 'Vier Edlen Wahrheiten' und 'Zwölf Zusammenhänge der Ursache und Wirkung', je nach Zuhörerschaft und in verschiedensten Raum-Zeit-Situationen vermittelt. Ihre existenziellen Werte [Arznei] sind durch die Krankheit der Lebewesen bedingt, denn sie wurden nur aufgestellt, um bestimmte Symptome und Dauerkrankheiten zu heilen. Wenn jedoch Festhalten daran angehäuft würde, daß 'diese Dharma' oder 'jene Dharma' letztendliche, 'reale', 'echte Dharma' seien und ein Loslassen nicht mehr möglich wäre, dann ist dieses Festhalten ein bedauerlicher und hindernisvoller Irrtum.
-114-
Auch sämtliche Prajna-Weisheiten – die Verwirklichung sowie die Vervollkommnung jener Weisheit eines Bodhisattvas – sind eben nicht 'echt'. Denn in Wirklichkeit, von absoluter Ebene her betrachtet, existiert letztendlich weder ein 'Verwirklichungsobjekt' noch ein 'Vervollkommnungsobjekt' [die, die noch nicht 'vervollkommnet' sind]
-115-
Denn, wenn es auf einer Seite ein 'Verwirklichungsobjekt' bzw. ein 'Vervollkommnungsobjekt' geben würde, dann existiert auf der anderen Seite auch ein Subjekt der 'Verwirklichung' / 'Vervollkommnung'. Das heißt, es gäbe 'etwas', was sich 'verwirklichen' und 'vervollkommnen' ließe.
-116-
Ebenso verhält es sich mit dem Subjekt, also 'etwas', was 'verwirklicht' und 'vervollkommnet' wurde. Der objektive Teil dieser 'Verwirklichung' / 'Vervollkommnung' ist 'etwas', was durch den anderen, subjektiven Teil bedingt ist.
-117-

Kurze Erläuterung: Das Ziel der 'Verwirklichung' ist 'etwas Objektives', welches der subjektive Teil der 'Verwirklichung' versucht, als Ziel zu erreichen. 'Objekt' und 'Subjekt', eines kann nicht ohne das andere existieren, sie sind miteinander verwoben, durch einen gegenseitigen dualistischen Prozess bedingt. Wie kann man diesen bedingten Prozess letztendlich als 'echt' betrachten? Daher lautet Buddhas Belehrung an dieser Stelle, daß es „… keine Prajna-Weisheit, auch gar keine Verwirklichung sowie Vervollkommnung.“ gibt. Eine Offenbarung, um das Festhalten der Bodhisattvas an einem 'Erreichungsversuch', einer Prajna-Weisheit als Ziel ihrer Praxis zu 'verwirklichen', zu 'vervollkommnen', ein für allemal aufzulösen.
-118-

„Da es nichts festzuhalten gibt, gerade deshalb übte sich der Bodhisattva nach dieser Prajnaparamita und befreite so alle Hindernisse des Geistes. Denn aus hindernisfrei wird angstfrei, so sind auch Träumerei, Irre und Wahn seither für ewig ferngehalten und so befreit, erlangte er das vervollkommnete Nirvana.“


'Nirwana' ist nicht 'erzeugt'. Wenn es nicht 'erzeugt' wurde, dann kann es auch nicht 'erlöschen'. Somit ist 'Nirwana' „… weder erzeugt noch erloschen, …“. Alle Lebewesen verirren sich, sie sind in eine Zwickmühle der Irre, des Wahns und der Illusion geraten. Das sind die nicht wahrhaftigen Sichtweisen und Betrachtungen, das sind die illusorischen Phantasien und Spekulationen 
[zuerst] über das Selbst und die eigene Person mit all den geistig-mentalen, wie physikalischen Prozessen. Aus der Sicht dieser Phantasien und Spekulationen betrachten sie diesen Prozess als beständig und glauben, daß das Ganze ein 'Selbst' besitzt, durch ein absolutes, machtvolles und unveränderliches Selbst gesteuert. Diese eingeengte und dualistische Sicht ist eine verblendete Sicht. Ein Daran-Festhalten belastet und erschwert es den Betrachtern zusätzlich um ein Vielfaches, sich von Irre und Wahn zu befreien.
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Dank der Prajna-Weisheit hält der Bodhisattva nicht an einer dualistischen Sicht fest, „Da es nichts festzuhalten gibt.“ Dank der Prajna-Weisheit „… und befreite so alle Hindernisse des Geistes. Denn aus hindernisfrei wird angstfrei, so sind auch Träumerei, Irre und Wahn seither für ewig ferngehalten …“. Dieser unübertrefflichen, vollkommenen Prajna-Weisheit ist es auch zu verdanken, daß er sich vollkommen aus dem Kreislauf des 'Lebens und Sterbens', „… so befreit“ und so „vervollkommnete Nirwana erlangt.“


-120-

„Auch Buddhas aller Drei Zeiten vertrauen auf die Prajnaparamita, verwirklichen die vervollkommneten Früchte des Weges: Anuttara-Samyak-Sambodhi – das Unübertreffliche Rechte-Bodhi des Rechten-Rang. [Auch als Verwirklichung, Vervollkommnung der Buddhaschaft bezeichnet.]
-121-
Weil der Buddha nicht an einer Vorstellung festhält, daß es 'etwas zu verwirklichen' und 'etwas zu vervollkommnen' gibt und auch Dank der Prajna-Weisheit, durch die er die Buddhaschaft verwirklicht und vervollkommnet hatte, deshalb wurde er 'Buddha' genannt. Dank der Prajna-Weisheit befreien sich die Bodhisattvas von sämtlichen 'Fehlern' und erreichten deshalb das friedliche, heilsame Nirwana.
-122-
'Verwirklichen', was es nicht zu verwirklichen gibt, 'Vervollkommnen', was es nicht zu vervollkommnen gibt – ist der Geist der Prajnaparamita. Im Diamant-Sutra hatte Buddha offenbart: „… da in der letztendlichen Wirklichkeit ein Dharma, das heißt so etwas wie Anuttara-Samyak-Sambodhi – das Unübertreffliche, Rechte-Bodhi des Rechten-Rang nicht existiert, auch nur deshalb hatte der Dipankara Buddha über meine Verwirklichung / Vervollkommnung der Buddhaschaft folgendes offenbart: ‚In dem kommenden Zeitalter wirst Du die Buddhaschaft verwirklichen und vervollkommnen, Dein Name wird Shakyamuni Buddha sein.' “
-123-
Auf welchem Weg sollten wir noch gehen, …:
- damit wir das Nirwana erreichen?
- damit wir „… befreite so alle Hindernisse des Geistes. Denn aus hindernisfrei wird angstfrei, …“ werden können?
damit wir auch „… so sind auch Träumerei, Irre und Wahn seither für ewig ferngehalten und so befreit, …“ werden können von all dem Illusorischem und letztendlich die „Buddhaschaft verwirklichen“? 
Wir sind gerade auf der Mitte des Buddha-Weges unterwegs, hierfür offenbarte der Buddha den 'Einsatz' der Prajnaparamita-Weisheit:


-124-

Erkenne, daß die Prajnaparamita ein Großes-Wunder-Mantra, ein Großes-Weises-Mantra, ein Unvergleichbares-Rangloses-Mantra ist!
Ein wahrer Befreier allen Leides – Rechtes-Wahres - Täuschungsfrei.

Wieso vergleicht der Buddha an dieser Stelle die Wunderwirksamkeit der Prajnaparamita-Weisheit mit „… ein Großes-Wunder-Mantra, ein Großes-Weises-Mantra, ein Unvergleichbares-Rangloses-Mantra …“? Der Hintergrund: Im damaligen indischen Kontinent war es im Volk üblich, die 'Mantras' bzw. 'Dharani' als geheimnisvolle Wunder-Zaubersprüche zu benutzen, um sie als Gebet an die Götter zu richten und sich so – so glaubten sie zumindest – von geistigem Leid, wie auch Epidemien, Ernteverlust bis hin zu Naturkatastrophen zu befreien. Sie glaubten auch daran, daß diese in Erfüllung gehen.
-125-
Der Vergleich ist aber nur eine Anlehnung und Andeutung wert, denn in der Wahrheit aus persönlich erfahrbarer, eigener Erfahrung der Verwirklichung und Vervollkommnung offenbarte Buddha, daß Prajnaparamita-Weisheit die 'Wunderwirkung' jener 'Wunder-Zaubersprüche' übertrifft. Denn Prajnaparamita-Weisheit verkörpert in sich vollständige Wunderwirksamkeit eines 'Mantras' und 'Dharani'. Denn sie sind Ein Wahrer Befreier allen Leides – Rechtes-Wahres – Täuschungsfrei. und diese ist die 'Wunderwirkung' der Prajnaparamita-Weisheit.

-126-

Deshalb ist hier zu sagen: Das Prajnaparamita-Mantra
Es lautet: Gate – Gate – Paragate – Parasamgate – Bodhi Svaha !

Wieso hatte Buddha einerseits die Wunderwirkung der Prajnaparamita-Weisheit wie folgt bestätigt, daß diese wie ein Großes-Wunder-Mantra, ein Großes-Weises-Mantra, ein Unvergleichbares-Rangloses-Mantra … und seine Wirkung für alle Lebewesen wie „Ein Wahrer Befreier allen Leides …“ ist? Wozu hat er andererseits an dieser Stelle noch einen geheimnisvollen Satz Gate – Gate – Paragate – Parasamgate – Bodhi Svaha hinzugefügt, der ähnlich wie ein Zauberspruch klingt, ist es nicht überflüssig? Und dies ist auch unsere Frage?
-127-
Um diese Frage zu beantworten, haben einige buddhistische Forscher folgendes erklärt: Während der hauptbuddhistischen Lehrperiode ['Prajna-Weisheit-Periode'] habe die Beeinflussung der Vajrayāna-Diamant-Tradition [3] zugenommen und sogar einen festen Platz in den Sutren [4] gefunden. Aufgrund dieser Schlussfolgerung sei am Ende dieses Prajnaparamita-Sutra ein 'geheimnisvolles' Mantra-Dharani als Abschluss zu finden.
-128-
Diese Schlussfolgerung ist jedoch unberechtigt, denn aus der Sicht des Patriarchen Zen-Meisters und aller Zen-Traditionen ist dieses Mantra-Dharani, welches sich am Ende dieses Herz-Sutras befindet, bestätigt und spiegelt die Essenz des Herz-Sutra wieder. Warum? Als Erklärung zitieren wir an dieser Stelle den Satz des Zen-Meisters Duy Tín: „Bevor ich einen Erwachten getroffen hatte, sah ich: Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse. Nachdem ich die Belehrung von dem Erwachten erhalten hatte, sah ich: Berge sind gar keine Berge, Flüsse sind gar keine Flüsse. So ist die Zeit vergangen. Nach dreißig Jahren sehe ich: Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse.“


-129-

Wir werden den obigen Satz wie folgt erläutern:


1. „Bevor ich einen Erwachten getroffen hatte, sah ich: Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse. …”: Bevor wir den Geist des Prajnaparamita-Herz-Sutra kennen gelernt haben, betrachten wir die Berge und Flüsse als 'echt' und nehmen auch die Berge und Flüsse als Berge und Flüsse wahr – echt, so wie sie sind. Für uns sind alle Phänomene dieser Welt real und echt. Nicht nur die Berge und Flüsse sind echte Berge und Flüsse, sondern alles, sämtliche Phänomene sind echt und beständig, wenn auch vorübergehend.
-130-
2. „… Nachdem ich die Belehrung von dem Erwachten erhalten hatte, sah ich: Berge sind gar keine Berge, Flüsse sind gar keine Flüsse. …”: Nachdem wir den Geist des Prajnaparamita-Herz-Sutra kennengelernt und danach praktiziert haben, erkennen wir, daß alle Phänomene durch Ursache und Wirkung gegenseitig bedingt sind, alle Phänomene sind in sich unbeständig. Daher „… Berge sind keine Berge, Flüsse sind keine Flüsse. …“.
-131-
Ein Beispiel: Verschiedene umwälzende Ursachen und Wirkungen, wie Erdbeben und Erosion, etc. führen dazu, daß die Verformung einer großen Erdoberfläche stattfindet, so groß, daß wir ihre Erscheinung nicht mehr wieder erkennen. Aus heißen, flüssigen Lava-Flüssen werden, wenn sie abgekühlt sind, bald Berge entstehen. Eine ganze Bergkette wird überflutet und bald zu Flüssen verwandelt. Aus Meer und Flüssen werden, wenn sie ausgetrocknet sind, bald zu Dünen, Hügel und Berge, auf denen Maisfelder entstehen. Dieses Stets-in-Wandlung-sein sind natürlichste Prozesse der Materie in diesem unendlichen All, usw., usf. Daher sind alle Phänomene Ursache und Wirkung unterworfen, sie sind vergänglich und unbeständig. Daher sind Land, Flüsse und Berge 'gar kein Land, Berge und Flüsse'. So gesehen ist das die 'Rechte Sicht' der Prajnaparamita.
-132-
3. „… So ist die Zeit vergangen. Nach dreißig Jahren sehe ich: Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse.”: Nach dreißig intensiven Praxisjahren im Geist der Prajnaparamita sind die Berge wieder die Berge, Flüsse sind wieder die Flüsse.
-133-
Ist diese 'Wiedererkennung', daß Berge und Flüsse sind, so wie sie sind, gleich oder ähnlich mit den einstigen Bergen und Flüssen, bevor wir den Erwachten getroffen haben? Sicherlich nicht! Denn, damals betrachteten wir Land, Berge und Flüsse als real und echt. Sobald diese Sicht durch die Beleuchtungskraft der Prajna-Weisheit durchleuchtet wird, erkennen wir die Erscheinung der Berge und Flüsse als die bedingten Erscheinungen. Alle Phänomene mit ihren vorübergehenden Erscheinungen sind durch Ursachen und Wirkungen bedingt, sie sind vergänglich und unbeständig. Sobald der Geist erkannt hat, daß die Fassade und Erscheinungen aller Phänomene bedingt, vorübergehend und scheinhaft sind, klammert er nicht mehr an irgendeinem Phänomen ['Dharma'] fest. Jetzt wird der Geist von keinem einzigen Dharma festgehalten. Jetzt ist er von "… befreite so alle Hindernisse des Geistes.”, "… und so befreit, erlangt er das vervollkommnete Nirwana.” Jetzt ist der Zustand des 'Tathagatha' realisiert ['Wahre-Soheit' oder 'Wahre-Leerheit']. [5]
-134-

Wenn der Geist jetzt eins mit dem Zustand der 'Soheit' [Leere – Leerheit] wird, wird er von sämtlicher Zerstreuung, Aufruhr, Vorurteilen und Wertungen bis hin zum Festhalten befreit. Daher sind Berge und Flüsse so wie sie sind: Berge und Flüsse. Dies ist die Sicht eines Zen-Meisters bzw. eines Zen-Praktikers: Beleuchtend, wieder erkennend, vereint mit dem 'Ureigenen-Wahren-Reinen-Geist'. Dieser 'Wahre-Geist' wird zur 'Sache des Herzens', weshalb das Sutra 'Mahaprajnaparamita-Herz-Sutra' genannt wurde. Dieses Sutra beschäftigt sich direkt mit dem intuitiven und spirituellen Aspekt des Geistes. Dieses begleitet uns direkt zu dem ultrafeinstofflichen, unaussprechlichen und begrifflosen Aspekt des Geistes, zu dem Grenzgebiet der Materie und des Geistes und darüber hinaus, kurz: die Essenz des Geistes. Wo der Geist keine verwirrenden Gedanken, Urteile und Wertungen aufwirbelt: „Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse“.
-135-
Wir zitieren an dieser Stelle noch einen Vers des Zen-Meisters Trì Bát der Vinidarucci Zen-Strömung aus der Lý-Dynastie. Bevor er ins Nirwana eintrat, hat er mündlich folgenden Vers hinterlassen:


Wenn es Sterben gibt, muss es Geboren geben
Wenn es Geboren gibt, muss es Sterben geben


Über Sterben trauern die Menschen
Über Leben freuen sie sich 
Trauer und Freude sind grenzenlos 
Sind jedoch nur flüchtige Dualität 
Leben und Sterben lass ich ungestört
So gekommen und so gegangen
Um ! Toro ! Toro-Tari !

-136-
So, wie wir gesehen haben, reagieren die Menschen auf Leben und Sterben entsprechend: um sich über das Leben zu freuen, feiert man Geburtstag und am Todestag ist der Schatten des Todes, auch am sonnigen Tag, nicht zu übersehen. Diese Trauer und Todesängste sind so gegenwärtig, daß diese bei manchen Menschen für schlaflose Nächte sorgen. Freude und Trauer sind gegenseitig bedingt, grenzenlos und endlos sind ihre Erscheinungen. Daher verirrt sich der Mensch in dieser vergänglichen, unbeständigen Dualität [zwischen Freude und Trauer].
-137-
Die Freude und Trauer über Leben und Sterben hat über die Einsicht und Verwirklichung eines verwirklichten Zen-Meisters die Macht verloren. Leben und Sterben, er lässt sie ungestört kommen und gehen. Somit ist seine geistige, intuitive Erfahrung nicht mehr von den dualistischen Sichtweisen gefangen. 'Leben' bzw. 'Geboren-sein' ist nicht das 'echte' Leben und Geboren-sein. 'Erlöschen' bzw. 'sterben' ist nicht das 'echte' Erlöschen bzw. Sterben. Denn es hat noch nie 'richtig geboren' gegeben, wie kann es dann 'richtig sterben' geben?
-138-
Da der geistige Zustand soweit gereift ist, ist dieses 'geheimnisvolle' Dharani an dieser Stelle zu finden. Und was hat dieses für eine Bedeutung? Das deutet auf eine vollkommene Befreiung von dem dualistischen Festhalten und ein vollkommenes Loslassen hin. Wenn der Geist vollkommen von jeglichem Festhalten befreit wird, ist er jetzt von der Leerheit durchdrungen, er wurde auch als Soheit oder auch Tathagatha bezeichnet. Während dieses Dharani vorgelesen wird, ohne das ein einziger Unterscheidungsgedanke aufgewirbelt wird, ist auch der Zustand der Soheit gegenwärtig.
-139-
Die Zen-Meister der alten Zeiten, wie auch der 'Zen-Meister des Landes' ['Der Meister aller Meister'] Tông Cảnh, greifen oft auf die Methoden zurück, bei denen 'Mantra' und 'Dharani' als Abschluss benutzt werden, um einen Erleuchtungsgesang oder einen poetischen Belehrungsvers abzuschließen. Dieses 'geheimnisvolle' Dharani „Um ! Toro ! Toro-Tari !“ ist auch der Endsatz eines bekannten Lobgesangs, welcher dem Trần Tung [1230 – 1291], dem Hof-Großgelehrten, Lehrer des Gründerabts Trần Nhân Tông [1258 – 1308], gewidmet wurde.
-140-
Daher deuten 'Mantra' und 'Dharani' als Abschluss hier an dieser Stelle des Herz-Sutras bzw. des obigen Verses auf die Früchte der Prajna-Weisheit hin. Wenn die Früchte so gereift sind, wenn Prajna-Weisheit in die Praxis umgesetzt und vervollkommnet wird, dann wird der Geist sein 'Wahres-Leeres-Wesen' offenbaren und dies ist das Wesen des 'Herz-Sutras'.


-141-

3. ZUSAMMENFASSUNG


Prajna wurde in drei Teile unterteilt: Der erste ist 'wörtliche, literarische Prajna-Weisheit', der zweite ist 'kontemplative Prajna-Weisheit' und der dritte ist das 'Wahre-Wesen der Prajna-Weisheit'. Mit dem literarischen Teil ist hier die schriftliche Darlegung gemeint, diese ist zum Vorlesen, Verinnerlichen, um seine wörtliche Bedeutung zu verstehen und zu begreifen. Der kontemplative Teil ist der Einsatz der Weisheit für eine tiefgründige Beleuchtung des essenziellen Wesens des Geistes. Der dritte Teil ist das 'Wahre-Wesen der Prajna-Weisheit': Vervollkommnetes Nirwana, Rechte- Bodhi des Rechten-Rang.
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Die wörtliche Prajna ist das Floß, die kontemplative Prajna ist der Fleiß, die Ruderkraft und das 'Wahre-Wesen' der Prajna ist das andere Ufer. Wir werden das andere Ufer nie erreichen, wenn wir zufrieden sind mit dem Floß, in das wir eingestiegen sind, denn ohne weitere Ruderkraft bleibt das Floß ewig an einer Stelle. Nur Dank unserer unermüdlichen Kraft und Arbeit mit dem Ruder können wir erst das andere Ufer erreichen. Übrigens, am anderen Ufer angekommen, müssen wir noch lernen, das Floß am Ufer stehen zu lassen, um weiterzugehen, denn es ist äußerst belastend für denjenigen, das Floß noch auf dem Kopf auf dem Lande barfuß herumzutragen. Dieses Sutra legt den Schwerpunkt auf die Wortgruppe 'Durchleuchtung zur Einsicht' [Kontemplieren und Einsicht]. Es heißt Durchleuchtungskraft bzw. Versenkung in der tiefgründigen Praxis der Prajnaparamita-Weisheit.
-143-
Wenn wir die Übung aufrichtig anstreben und in die Praxis umsetzen, ist der Mittlere Weg, unser eigenes spirituelles Ziel, bereits in diesem Prajnaparamita-Herz-Sutra vollständig vorhanden. Wenn wir stets und kontinuierlich die Prajna-Weisheit einsetzen und wenn die Durchleuchtungskraft der Prajna-Weisheit stets und kontinuierlich zum Einsatz kommt, dann erkennen wir eindeutig, daß sämtliche Phänomene – von den subjektiven bis zu den objektiven materiellen und geistigen Manifestationen – scheinhaft bedingt, durch Ursache und Wirkungen zustande gekommen sind. Daher ist jede in sich ohne ein Selbst, vergänglich und unbeständig.
-144-
Aus dieser tiefgründigen Kontemplation kommen wir zu der Einsicht, daß alles bedingt, in Wandlung und unbeständig ist. Dann fragen wir uns: Gibt es noch einen oder irgendeinen Ort, an dem wir uns noch festhalten können? Denn, wenn man sich an etwas festhalten kann, dann muss dieses 'etwas' beständig, fest arretiert und unveränderlich sein. Stellen wir uns einige unbeständige 'Phänomene' vor, wie z.B. Richtig/Falsch, Überlegenheit-/Verloren-sein, etc. Alle oben genannten unbeständigen 'Standpunkte' sind allesamt vergänglich und unbeständig. Stellen wir uns nicht etwa die Frage, an was wir uns noch festhalten können?
-145-
Wenn alle Arten des Festhaltens und Hindernisse durch Festhalten zerbröckelt sind und keinen Halt mehr bieten, dann hat sämtliche Quälerei des Geistes – auch 'Leid' genannt – ein Ende. Wenn der Geist von Angstfreiheit überflutet, von Leid befreit ist, ist er auch verblendungs- und hindernisfrei. Folgerichtig haben alle Illusionen, Träumerei, Irre und Wahn auch ein Ende. Jetzt ist der ätherische, reine Zustand des weder 'Leben noch Sterben' erreicht. Und das ist das 'Wahre-Wesen' des Herz-Sutras.
-146-
Dieses Herz-Sutra ist der Weg, auf dem alle Bodhisattvas und Buddhas aller Zeiten gegangen sind, bis sie das endgültige Ziel erreicht haben. Dank des Herz-Sutras haben alle Bodhisattvas und Buddhas aller Zeiten ihre Früchte des Weges vervollkommnet und intuitiv verwirklicht. Bis zum heutigen Tag münden sämtliche 'Wege des Mittleren Weges' im Prajnaparamita-Herz-Sutra. Das ist der Grund dafür, daß am Ende jedes Gebets und jeder Rezitation noch das Mahaprajnaparamita-Herz-Sutra zu finden ist.
-147-
Es gibt jedoch eine herrschende Meinung, welche die Bedeutung der Prajna-Weisheit verkennt. Diese herrschende Meinung vernachlässigt bis ignoriert sogar die entscheidende Funktion der Prajna-Weisheit, nämlich alles, sämtliches falsches Festhalten der Lebewesen tiefgründig aufzudecken, offenzulegen, davon loszulassen und schließlich sich selbst befreien zu können. Für viele, die diese verblendete Meinung vertreten, ist das Herz-Sutra nur ein Abschlussteil, sogar ein 'Ergänzungstext' eines ihrer Gebete oder Liturgie, die nun zusätzlich hinzugefügt werden soll. Diese herrschende Meinung ist ein gewaltiger Irrtum, denn sie haben komplett die tiefgründige Lehre Buddhas und der Gründer-Patriarchen-Zen-Meister nicht verstanden. Das ist der Grund, daß das Herz-Sutra für sie nur noch eine dekorative Bedeutung hat.
-148-
Für einen aufrichtigen Schüler des Weges, wenn er tatsächlich und aufrichtig anstrebt, über 'Leben' und 'Sterben' frei-erhaben zu sein, wenn Leben und Sterben tatsächlich die Sache seines Herzens ist, dann gibt es keinen Einzigen, der nicht Prajnaparamita-Weisheit gebraucht, um auch ein paar Früchte der Erkenntnis zu erlangen. Auch der Sechste Zen-Patriarch hat seine erleuchtete Erkenntnis Dank der Diamant-Sutra-Paramita erblickt. Die Prajnaparamita ist ein wichtiger Bestandteil seiner Belehrung und während der 'Geist-zu-Geist-Überlieferung' für die Zen-Schüler der nachkommenden Generation, ist der Geist der Paramita eine der wichtigsten seiner Unterweisungen. Zen-Tor ist auch Leerheitstor. 'Leer' bedeutet hier 'leer von einem Selbst' und unbeständig. Dank des Einsatzes der Prajna-Weisheit erkennen wir, daß alle Phänomene unbeständig sind. Dies bedeutet auch, daß wir das Eingangstor, das zum Gebäude des Zen führt, gefunden haben.
-149-
Wir wiederholen noch einmal die Umsetzung der Prajnaparamita in der Praxis: Der Einsatz der Prajna-Weisheit sollte kontinuierlich aufrecht erhalten werden, um das Konstrukt [subjektivinnerhalb  unseres eigenen Körpers [die vier materiellen und fünf geistigen Skandhas] zu durchleuchten, um zu erkennen, daß das Wesen ihrer Erscheinungen durch Bedingtheit zustande kommt und daher scheinhaft und nicht 'echt' ist. Es gilt ebenso für sämtliche materielle, imaginäre Phänomene außerhalb unseres eigenen Körpers [Objekte des Geistes].
-150-
Sobald alle Phänomene als scheinhaft und nicht 'echt' erkannt werden, reduziert sich die Illusion und Zerstreuung des Geistes entsprechend. Auch Kräfte aller Art des Festhaltens verlieren radikal ihre Energie und Macht. Erst dann ist es leichter für uns von allerlei geistigen Illusionen loszulassen.


Wenn die vier materiellen, physikalischen Gruppierungen 
[leiblicher Körper] scheinhaft und nicht echt sind, wenn der Geist zerstreut und illusorisch, auch scheinhaft und nicht echt ist, lassen wir sämtlichen Ruhm, wie auch Beleidigung aller Art wie flüchtige Wolken vorbeiziehen, wie Seifenblasen zerplatzen. Mit Gelassenheit lassen wir sie kommen und gehen. Somit wird die geistige Last tagein, tagaus spürbar an Gewicht verlieren, auch sämtlicher Kummer, Trauer, Festhalten verdampfen spurlos. Mit dem Einsatz der Prajna-Weisheit erkennen wir, daß das Wesen und die Erscheinung aller Phänomene bedingt und unbeständig sind, daher nehmen wir alles Gerede des Weltlichen mit Gelassenheit wahr. Weder 'richtig' noch 'falsch', wir müssen uns weder Kummer machen oder Festhalten, noch rechtfertigen. Das bedeutet aber nicht, daß wir für alle Fälle gleichgültige Ja-Sager sind, denn es gibt nichts Dümmeres, als Jemanden, der alles rund um ihn herum gleichgültig betrachtet und in allen Fälle das Wort 'Ja', das Einzige sei, das er von sich geben könnte.


Das Leben eines Zen-Praktikers ist aber durch das Licht der Prajna-Weisheit durchleuchtet. Wir erblicken das 'Wahre-Wesen' des Lebens so wie es ist, ohne es festzuhalten. Festhalten ist Verblendung und nährt die Ursache des Leides. Von allem Festhalten befreit, bleibt die Befreiung – auch 'Nirwana' genannt.

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MAHA PRAJNA PARAMITA HERZ SUTRA -
- DIE ABHANDLUNG - 
Abstrakt Version
Autor THÍCH THANH TỪ - 
HEFT DIN A5 - 48 SEITEN
Fußnoten:

[1] 'Huệ Năng' vietn.; 'Hui Neng' chin. Umlaut: Der sechste Zen-Patriarch bzw. der dreiunddreißigste Zen-Patriarch nach Buddha und Bodhidharma. Siehe „Die Indische, Chinesische und Vietnamesische Zen-Patriarchen – Stammbäume und Überlieferungslinie“ [Buchautor: Thích Thanh Từ].

[2] 'Zwölf Zusammenhänge der Ursache und Wirkung': Auch als 'Zwölfgliedrige Kausalität der Ursache und Wirkung' bekannt
[3] 'Vajrayāna': 'Diamant-Fahrzeug' bzw. 'Diamant-Tradition' – auch 'intern gehütete Lehre' oder 'Tradition der vertraulichen Lehre', 'Verborgene Tradition' genannt.
[4] 'Sutra' [Sanskrit]; 'Kinh' [vietn.]: kanonische, schriftliche Sammlungswerke der Lehre Buddhas und bedeutende Belehrungen der buddhistischen Gelehrten.
[5] 'Tathagata' oder 'Tathagatha' [Sanskrit], 'Như Lai' [vietn.] einer von zehn Verehrungstiteln Sakyamuni Buddhas. Wörtlich: „Der So gekommen und So gegangen', oder auch: 'Jemand, der nirgendwoher kommend und nirgendwohin gehend' – ferner auch als 'Wahre Leere' angedeutet.





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MAHAPRAJNAPARAMITA-HERZ-SUTRA - DIE ABHANDLUNG
MA HA BÁT NHÃ BA LA MẬT ĐA TÂM KINH - GIẢNG GIẢI
Oberster Abt Zen-Meister Thích Thanh Từ
Sommer-Klausur 2001
Thường Chiếu Zen-Kloster, Südvietnam

Erste offizielle deutsche Übersetzung
der amtlich-hochvietnamesischen Version:
Chinh Tâm

Mitwirkung bei der deutschen Version
von Andreas, Stefan, Sandra, Michael, Mechthild
und Freunde der Bodhi-Kontinuum-Zen-Gruppe
Bambuswald-Zen-Tradition, Vietnamesischer Zen-Buddhismus

München, Vaterstetten 30. Juli 2013
Erste Auflage als Buch zum Vesakh-Fest 2016 / 2640



1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank !!!